Yolanda von Vianden: Mittelhochdeutscher Text und neuhochdeutsche Übersetzung.

Wie im Ahd. Teil wird an den theoretischen Stoff zwecks der Veranschaulichung ein mittelhochdeutscher Text „Yolanda von Vianden“ mit der nhd. Übertragung angeschlossen.

Das Textstück wurde exemplarisch bearbeitet. Hier führt Yolanda ein Streitgespräch mit ihrem Bruder: dieser hat erfahren, daß sie sich weigert, standesgemäß zu heiraten, und statt dessen Nonne werden möchte.

Der Text fällt zeitlich in die mittelhochdeutsche Periode, er ist jedoch durch die Mundart des Raumes gefärbt. Gegenüber dem Oberdeutschen und dem heutigen Neuhochdeutschen bewahrt das Moselfränkische viele Erscheinungen aus älteren germanischen Sprachstufen. Eine moderne Erscheinung ist dagegen z.B. die hier besonders früh einsetzende frühneuhochdeutsche Monophthongierung.

Der junge grêve, hir bru/oder

Der junge Graf, ihr Bruder

bedru/ovet zu/o der suster gync.

ging ganz aufgewühlt zu seiner Schwester.

suslîche rede her anevync:

Er begann folgende Rede:

"ich biden, herzesuster, dich,

"Ich bitte dich, liebste Schwester,

dat du des nyt enheles mich,

mir nicht zu verschweigen,

des ich dich willen vrâgen."

was ich dich fragen werde."

sy sprach: "ich sol dir sagen

Sie antwortete: "Ich werde dir

vil gerne, wat ich gu/odes kann."

sehr bereitwillig sagen, was ich an guten Dingen weiß."

"nû sage, lyve suster, dan:

"Nun, liebe Schwester, so sage mir:

ist dat an dîner begerden,

ist es dein Wille,

dat du wilt nunne werden?"

Nonne zu werden?"

"ja", sprach dy gu/ode, "dat is wâr.

"Ja", antwortete das reine Mädchen, "das stimmt

ich han des willen offenbâr

ich trage ganz offensichtlich diese Absicht,

und ist dat alle mîn beger."

und das ist alles, was ich will."

"nû sage, lyve suster, wer

"Nun sage, liebe Schwester, wer

hat dich herzu/o gebrachten?

hat dich dazu gebracht?

has du dit selven erdahten?

Hast du dir das selbst ausgedacht?

ist it dir ernest aver spot?"

Ist es dein Ernst oder machst du Spaß?

"it ist mir ernest, unde got

Es ist mein Ernst, und Gott

hat sunderlîche dat gedân,

hat dies eigentlich so gefügt,

und it mu/oz wesen sunder wân."

und es muß ohne Zweifel auch geschehen."

"jâ suster", sprach der junge man,

"Ja, Schwester", sagte der junge Mann,

"vil wol ich dat gepru/oven kann,

"ich kann das sehr gut verstehen,

warumbe hir ûch begevet:

warum ihr euch ins Kloster begebt:

ûch dunket, wy hir levet

euch scheint, ihr lebt

ze lange maget sunder man.

zu lange (schon) als Jungfrau ohne Ehemann.

ist ûch dat leit, âr wat is dan

Seid ihr dessen überdrüssig, oder was ist es sonst,

dat ûch alsus bedru/ovet?

was euch so betrübt?

wir han dat wol gepru/ovet,

Wir haben das sehr wohl bemerkt,

dat hir in ungemu/ode sît

daß ihr mißmutig seid,

wir wollen gerne (und des is zît)

und möchten euch nun gerne (dafür ist auch höchste Zeit)

ûch geven einen rîchen man,

einen mächtigen Mann geben,

den wir ûch hô erkoren han."

den wir euch aus ausgewählten Kreisen erwählt haben."

dâ sprache dy reine gu/ode

Da sagte das reine, ehrenhafte Mädchen

bit zorne in swâre mu/ode:

wütend und traurig:

"nein, bru/oder, des enmach nyt sîn.

"Nein, Bruder, das kann nicht sein.

ich geven ûch dy trûe mîn,

Ich gebe euch mein Wort

dat, woilde ich kumen sîn zu/o man,

daß, wollte ich einen Mann haben,

ich soilde hin michels bezzer han,

ich würde einen viel besseren bekommen,

dan hir gewinnet unmer wîf.

als ihr jemals eine Frau erringen werdet.

mîn mu/ot, min herze und ôich mîn lîf

Meine Denken, meine Seele und auch mein ganzes Ich

enhat des keinen wille.

haben danach kein Verlangen.

der reden swîget stille."

Verliert darüber kein Wort mehr."

 

 

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