Lektion 10

Schreibung und Schriftlichkeit

Schriftliche Überlieferung. Das Deutsche ist seit dem 8. Jahrhundert schriftlich überliefert. Neben Inschriften sind es zumeist kirchliche Gebrauchstexte (Bibelübersetzungen, Gebete, Taufgelöbnisse), daneben aber auch Heldenlieder (Hildebrandslied). Seit dem mhd. sind fast alle Textgattungen belegt; vor allem die Erfindung des Buchdrucks hat die Zahl der produzierten Texte in die Höhe schnellen lassen, so daß spätestens seitdem eine relativ umfangreiche schriftliche Überlieferung gewährleistet ist.

Graphemsysteme. Bis auf wenige Ausnahmen ist das Deutsche in lateinischer Schrift überliefert. Es gibt jedoch auch einige Texte in hebräischer Schrift. Runentexte sind zumeist älter und eher dem Germanischen zuzuordnen, dennoch werden beide Schriften noch eine Zeit lang parallel verwendet. Das lateinische Alphabet, sofern es verwendet wurde, paßte jedoch nur ungenau zur deutschen Sprache. So fehlten beispielsweise Zeichen für die Affrikaten und einige Frikative, die unterschiedlichen Vokalquantitäten und -qualitäten konnten nicht ohne weiteres dargestellt werden. Es mußten also neue Grapheme oder Graphemkombinationen eingeführt werden, die aber teilweise sehr uneinheitlich verwendet wurden: ph, pph, pf, ppf, bph, fph, fpf, pff für /pf/ neue Grapheme für /h/ h, /Þ/ Þ, d.

Sehr schön zeigt sich dies am Graphem sch, das schon im ahd. parallel zu sk für /sk/ verwendet wird (analog zu k, ch für /k/. Nach der Palatalisierung von [sk] zu [ò] wurde sch als Schriftzeichen beibehalten und uminterpretiert auf andere Fälle übertragen: sl → schl, etc.

Eine ähnliche Uminterpretierung widerfuhr dem Graphem ie, das vor der Monophthongierung /ie/, später /i:/ bezeichnete. Das e wird hier nur noch als Längenzeichen verwendet.

Die Aufgabe, ein bereits vorhandenes Graphemsystem auf eine Sprache mit einer anderen Lautstruktur anzuwenden, ist die Hauptschwierigkeit in der Geschichte der deutschen (und manch anderer) Schreibsprache.

Orthographie. Geschichtlicher Überblick. Versuche, die Schreibung des Deutschen zu normen, gibt es seitdem es geschrieben wird. In althochdeutscher und mittelhochdeutscher Zeit schrieb man so, wie man sprach, d.h., daß sich sehr regionale Schreibregelungen ergaben, die jeweils für eine Schreibstube, eine Druckerei, o.ä. galten. Manchmal waren es auch nur selbst aufgestellte Regeln einzelner Autoren, die sozusagen als „private Orthographie“ aufgestellt wurden, um innerhalb eines Textes konsequent zu schreiben. So mancher Autor hat auch das nicht getan.

Die Sprachgesellschaften des 17. Jhs., die sich mit der deutschen Sprache und Literatur beschäftigten, sind als Hauptquellen eines neuzeitlichen Bestrebens nach einheitlicher Orthographie zu nennen. Dazu zählt neben der Rechtschreibung auch die Regelung der (Bühnen-) Aussprache (Orthoepie) und das Bemühen, deutsche Wörter statt Fremdwörter zu verwenden: Fernglas statt Teleskop, Anschrift statt Adresse.

Bei diesen Ansätzen tat sich die Schwierigkeit auf, eine unangefochtene normgebende Instanz und zudem einen Maßstab für die Festlegung der Norm zu finden. Dabei gab es zwei Hauptrichtungen. Die eine favorisierte eine über den Dialekten stehende Literatursprache. Hier ist vor allem Justus Georg Schottel (auch: Schottelius) zu nennen, der mit Seinem Werk „Ausführliche Arbeit von der Teutschen HaubtSprache“ einen wichtigen Vorstoß in diese Richtung machte. Die andere Richtung bevorzugte die Sprache der ostmitteldeutschen höheren Stände. Hierzu sind Christian Gueintz und Philipp von Zesen einzuordnen.

Gueintz stellte als allgemeine Kriterien für die Rechtschreibung die Etymologie, die Aussprache und den Usus heraus. Doch erst Hieronymus Freyer entwickelte und systematisierte in seiner Arbeit „Anweisung zur Teutschen Orthographie“ (1722) theoretische Prinzipien der Rechtschreibung: Aussprache, Abstammung, Analogie und Schreibgebrauch. Dabei wurde im Folgenden immer das meiste Gewicht auf den Schreibgebrauch gelegt, die anderen Kriterien wurden nur zur theoretischen Begründung einzelner Fälle herangezogen.

Eine weitere wichtige Person in der Geschichte der Rechtschreibung war Johann Christoph Gottsched. Mit seiner „Grundlegung einer deutschen Sprachkunst“ (1748), die sich im Wesentlichen an Freyer hält, nahm er großen Einfluß auf die Orthographiediskussion. Auch er setzte sich für eine Festlegung der Literatursprache auf den Sprachgebrauch in Obersachsen ein.

Den bedeutendsten Einfluß aber (und auch mehr Erfolg als seine Vorgänger) erreichte der Lexikograph und Grammatiker Johann Christoph Adelung der sich in seinen Regeln zur Rechtschreibung vor allem am Sprachgebrauch orientierte. Sein wichtigstes Werk ist die „Vollständige Anweisung zur deutschen Orthographie“ (1788). Er faßte seine Regelung zusammen im „Grundgesetz der deutschen Orthographie“:

„Schreib das Deutsche und was als Deutsch betrachtet wird, mit den eingeführten Schriftzeichen, so wie du sprichst, der allgemeinen, besten Aussprache gemäß, mit Beobachtung der erweislichen nächsten Abstammung und, wo diese aufhöret, des allgemeinen Gebrauches.“

Damit befürwortete er vor allem Formen und Schreibungen, die bereits weit verbreitet und üblich waren, was es erleichterte, sie zur Norm zu machen. Die Bedeutung Adelungs rührt sicher auch daher, daß er ein Wörterbuch verfaßte, in dem man die Schreibung der einzelnen Wörter nachschlagen konnte (und nicht nur die allgemeinen Regeln), welches seinerzeit das einzige dieser Art war, und daher, daß sich Dichter und Schriftsteller wie Goethe, Lessing, Schiller, Wieland, Voss u.a. auf dieses Wörterbuch bezogen.

Die Grammatiker und Lexikographen Jacob und Wilhelm Grimm, die seit dem frühen 19. Jh. vergleichende Sprachforschung betrieben und seit etwa 1850 das Deutsche Wörterbuch ausarbeiteten, hielten sich zwar in diesem Wörterbuch weitgehend an den gängigen Schreibgebrauch, legten jedoch im Vorwort des Werks ihre Auffassung über eine reformierte Orthographie dar.

Sprach- und kulturpolitisch ist die Erstellung eines solchen Wörterbuches ein entscheidender Meilenstein auf dem Weg zur einheitlichen Hochsprache.

Dazu kommt eine andere Entwicklung: seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurde in den deutschen Einzelstaaten die Schreibung per Gesetz so weit vereinheitlicht, daß jeweils innerhalb einer Schule dieselbe Norm gelte. Mit der Reichsgründung (1871) kamen neue Impulse in diese Richtung, 1876 fand eine erste Konferenz statt, die eine einheitliche Regelung erarbeitete. Die wenigen Regelungen (Einschränkung von th und -ieren statt -iren) wurden 1879 (Bayern, Österreich) bzw. 1880 (Preußen) amtlich. Eine allgemeingültige Regelung für den gesamten deutschen Sprachraum (also auch die Schweiz) trat erst im Jahre 1902 in Kraft. Es handelte sich hierbei um die Regelungen, die von Konrad Duden zunächst nach den Ergebnissen von 1880 und dann nach denen der Berliner Konferenz von 1901 erarbeitet wurden.

Das 1902 erschienene orthographische Wörterbuch wurde ein Jahr später um den sog. „Buchdruckerduden“ ergänzt; beide Bände wurden 1915 zu einem Buch zusammengefaßt.

Erst 1955 wurde der „Duden“ in der Bundesrepublik von der Kultusministerkonferenz als maßgeblich in allen Zweifelsfällen von Orthographie und Zeichensetzung anerkannt.

Der Regelungen von 1901 waren eigentlich als Übergangsregelungen gedacht, jedoch verzögerten die beiden Weltkriege und die deutsche Teilung die Ausarbeitung eines verbesserten Regelwerkes für lange Zeit.

Orthographiereform. 1988 wurde ein Konzept für eine Reform der Rechtschreibung vorgelegt und in veränderter Fassung auch in allen deutschsprachigen Ländern angenommen (1994/1995). Viele gute Ansätze, uneinheitliche Regelungen des Duden zu vereinheitlichen und die Zeichensetzung und Schreibung zu vereinfachen, sind durch die beschließenden Organe wieder verworfen worden. Zudem ist bewußt behutsam vorgegangen worden, um Rücksicht auf Schreibende und Schreibkultur zu nehmen und um die Lesbarkeit der bisherigen Orthographie nicht zu gefährden.

Wie schon vor hundertzwanzig Jahren stoßen auch die gegenwärtigen - sanfteren - Reformvorschläge der Orthographiekommission bei Politik und Bevölkerung auf Ablehnung. Die per Gesetz beschlossene Rechtschreibreform wird derzeit in Deutschland vor verschiedenen Gerichten angefochten, wobei übersehen wird, für wen diese Regelungen überhaupt verbindlich sind: Behörden, Schulen, staatliche Einrichtungen. Daß es jedem überlassen ist, wie er privat schreibt, ob er sich überhaupt an eine Schreibnorm hält, wird oft außer Acht gelassen.

Orthographische Prinzipien. Wie bereits angesprochen, gibt es verschiedene Prinzipien, Rechtschreibung systematisch zu regeln, die sich teilweise zuwider laufen.

Historisches Prinzip. Das historische Prinzip orientiert sich daran, wie das einzelne Wort bisher geschrieben wurde, also im Wesentlichen am bereits bestehenden Schreibgebrauch. Ein gutes Beispiel hierfür ist auch das Französische, das eine sehr konservative Orthographie hat. Das deutsche Eltern ist ein Beispiel, das zugleich im Widerspruch zum folgenden Prinzip steht.

Etymologisch- morphologisches Prinzip. Das etymologisch-morphologische Prinzip fordert die Gleichschreibung etymologisch zusammengehörender Wörter oder Wortteile, z.B. flektierte Formen, Ableitungen. Es wird in der deutschen Orthographie teilweise angewandt, z.B. bei der Auslautverhärtung, die nicht schriftlich widergegeben wird, um /hunt/ Hund und /hundes/ Hundes sofort als zusammengehörig zu kennzeichnen. Es wird jedoch nicht konsequent durchgehalten, z.B. Eltern vs. älter, und in anderen Fällen fälschlich angewandt, z.B. beim Reformvorschlag belämmert (statt bisher belemmert) zu Lamm, obwohl kein etymologischer Zusammenhang besteht.

Phonologisches oder phonetisches Prinzip. Das phonologische Prinzip fordert eine eindeutige Zuordnung von Phonem und Graphem im Verhältnis 1:1. Allophone sollen dabei das selbe Graphem haben, z.B. /R/ und /r/ beide r. Dieses Prinzip ist in der deutschen Orthographie nicht ohne aufwendige Umgestaltung durchführbar.

Problematisch wären im Deutschen die Buchstabenkombinationen sch, ch oder h und e als Längenkennzeichen, und umgekehrt x, das für die Lautfolge [ks] steht. Die Vokalquantität ist bedeutungsdifferenzierend, wird aber nicht einheitlich (wenn überhaupt) graphisch repräsentiert.

In einigen Sprachen wird nach diesem Prinzip geschrieben, beispielsweise Türkisch (seit 1928) und Kroatisch.

Dieses Schreibprinzip birgt noch ein weiteres Problem: auf lange Sicht wird sich das Phoneminventar des Deutschen (wie das jeder anderen Sprache auch) verändern. Dann wäre eine Schreibreform durchzuführen, oder das Prinzip wäre zerstört. Geht man noch einen Schritt weiter, so gelangt man zum phonetischen Prinzip. Hier wäre eine exakte Wiedergabe der Laute gefordert, die also auch Allophonen eigene Grapheme zuordnet. Diese Schreibung (vgl. IPA - Lautschrift) wäre jedoch nicht alltagstauglich, da sie zu viele irrelevante Merkmale schreiben würde, und so auch nicht für eine übergreifende Schreibung einer überregionalen Hochsprache geeignet wäre.

Logisches oder semantisches Prinzip. Das logische Prinzip ist eine Zusammenfassung von etymologischem und phonologischem Prinzip mit der Erweiterung, daß es Abwandlungen bzw. Abweichungen vorsieht, um Homonymenkonflikte zu vermeiden: Lerche vs. Lärche, Weise vs. Waise, gebe vs. gäbe. Auch dieses Prinzip ist in der deutschen Rechtschreibung nicht konsequent durchgesetzt, z.B. vertiert /fertiert/ 'zum Tier geworden' vs. /vertiert/ 'gewendet'.

Anmerkungen zur Schreibung des Deutschen. Eine konsequente graphische Umsetzung der Auslautverhärtung beispielsweise wird es auch weiterhin nicht geben. Auch von einem Phonem-Graphem-Verhältnis von 1:1 ist die Schreibung des Deutschen weit entfernt. Es gibt sicherlich Sprachen, die mit einer noch viel komplizierteren Rechtschreibung funktionieren, und in denen das Laut-Buchstaben-Verhältnis teilweise noch viel ungünstiger ist (Deutsch 100:112; Englisch 100:124; Französisch 100:148).

Aber es gibt genauso gut auch Beispiele dafür, wie eine einfache, logische, den Bedürfnissen einer Sprache angepaßte Orthographie entwickelt und beschlossen wurde, z.B. im Serbokroatischen, wo dies sogar mit zwei Alphabeten (Latein und Kyrillisch) funktioniert.

 

 

Hosted by uCoz