Lektion 0 (Fortsetzung)
Sprachliche Variation. Sprache ist
veränderbar, weil sie variabel benutzt wird. Den Sprachbenutzern steht in
vielen Fällen nicht nur eine Ausdrucksmöglichkeit zur Verfügung,
sondern zwei oder mehrere Varianten. Die im Sprachsystem angelegte
Variantenwahl ist jedoch mehr oder weniger eingeschränkt durch
Sprachnormen, mit denen durch gesellschaftliche, oft institutionalisierte
Konventionen bestimmte Varianten mit Prestige ausgestattet, andere Varianten
diskriminiert und mit negativen gesellschaftlichen Sanktionen belegt, in
extremen Fällen stigmatisiert oder tabuisiert sind. Das veränderbare
und veränderliche Spannungsverhältnis zwischen Sprachsystem und
Sprachnormen ist eine der wichtigsten Triebkräfte für Sprachwandel.
Konflikte zwischen Variantenwahl
und gesetzter Norm entstehen ganz alltäglich aus der
Polyfunktionalität, die vom Standpunkt der Normen her oft nicht
berücksichtigt wird: natürliche Sprache dient mehreren Funktionen,
gleichzeitig und mit wechselnden Gewichtungen. Nach dem bekanntesten
Sprachfunktionen-Modell, dem Organonmodell von Karl Bühler (1934),
benutzt man Sprache nicht nur zur Darstellung von objektiven Sachverhalten
(Darstellungsfunktion, repräsentative, kognitive Funktion), sondern auch
zum Ausdruck von Gefühlen, Stimmungen, Absichten, Bewertungen,
Einstellungen (Ausdrucksfunktion, expressive Funktion) und zum Appell an die
Kommunikationspartner, zur Beeinflussung ihres Verhaltens (Appell-,
Auslösefunktion, konative Funktion). Darüber hinaus hat Sprache auch
eine Symptom-Funktion: sprachliche wie nichtsprachliche Äußerungen
enthalten manchmal – jenseits von Absicht und Bewußtsein der
Sprechenden/Schreibenden - unvermeidbare Anzeichen, die es den
Hörenden/Lesenden ermöglichen, etwas Mitzuverstehendes über
soziale/psychische Eigenschaften oder Zustände der
Sprechenden/Schreibenden zu erkennen oder anzunehmen: Herkunft, soziale
Gruppenzugehörigkeit, Stimmung, Gesinnung, Wünsche (v. Polenz 1973).
Das Miteinander oder Gegeneinander von Bedeutungskomponenten nach verschiedenen
Sprachfunktionen (als Wortkonnotationen) kann zur Entstehung oder Verschiebung
sprachlicher Ausdrucksvarianten und damit zum Sprachwandel beitragen.
Nach den verschiedenen
Ebenen (Teilbereichen) von Sprache sind folgende Bereiche der Sprachvariation
zu unterscheiden:
Graphemische Variation (Schreibung): ß/ss/sz bzw. SS/SZ als Varianten des deutschen Graphems (ß) (scharfes s), wie
in Maß, Maße, Masse, wobei
die Variante ß in der
Großbuchstabenschrift (Versalien) keine Entsprechung hat (z.B. im
Telegrammtext, in Inschriften; dafür SS oder SZ); ß fehlt auch auf nichtdeutschen Schreibmaschinen und
muß da durch obige Varianten oder typographische Kombinationstricks
ersetzt werden; in der Schweiz gibt es kein ß.
Orthographische Variation (Rechtschreibung): ph und f als Varianten für das Phonem f in Lehnwörtern aus dem
Griechischen (z.B. Photo/Foto,
Graphik/Grafik), wobei die Variation nach Textsorten oder Sozialstil
geregelt ist: ph wirkt
wissenschaftlicher und konservativer, f kommerzieller,
moderner.
PhonemischeVariation (Lautung): verschiedene
Aussprachen des Phonems r als Zungen-r
(alveolar), Zäpfchen/Rachen-r (uvular, velar), einmal/mehrmals bzw.
kurz/länger angeschlagen oder vokalisiert; oft als regionale Variation:
bestimmte Varianten des Zungen-r in Bayern, Österreich, Schweiz,
Hessen, Mecklenburg, Oberlausitz usw.
Orthoepische Variation (Lautnorm): seit den 30-er
Jahren gilt mehrmals angeschlagenes Zungen-r nicht mehr als
obligatorische Norm der Deutschen Bühnenaussprache (Hochlautung); Zäpfchen-r
und r-Vokalisierung im Auslaut sind heute zugelassen.
Flexivische Variation: Endungs-e /endungslos im
Dativ Singular bestimmter Substantive (am
Tage/Tag); in diesem Fall ist die Variation rhythmisch-stilistisch
geregelt, z.B. mit -e vor konsonantischem
Anlaut (am Tage danach / am Tag einmal), oder
historisch-stilistisch (-e archaisch-poetisch), bis ins
späte 19. Jh. literarische Norm, oder regional (-e im
Obersächsischen, Schlesischen).
Wortbildungs-Variation: -heit/-keit/-igkeit/-et/-ität als Suffixvarianten für
Adjektivabstrakta (nomina qualitatis): Schönheit,
Übelkeit, Schnelligkeit, Wärme, Banalität; kombinatorische
Variation eines semantischen Wortbildungstyps.
Lexemische Variation (Wortvariation): Fahrstuhl/Aufzug/Lift als Synonyme (Gleichbedeutende,
Sinnverwandte); Variation frei oder sozial geregelt: Fahrstuhl altmodischer, Lift moderner.
Morphosyntaktische
Variation: Konjunktiv II/würde-Fügung (böte/würde bieten); als historisch-stilistische
Variation: Konjunktiv wirkt bei manchen Verben altmodisch, entspricht aber der
traditionellen Norm gegen die langfristige Entwicklungstendenz mit
würde-Fügung.
SyntaktischeVariation: Nominalgruppe/Nebensatz (wegen des Regens / weil es regnet); textsortenspezifisch
geregelt: die wegen-Fügung
förmlicher, amtssprachlicher.
Textsorten-Variation:
Zeitungsannonce/Plakat/Rundschreiben/Flugblatt/Lautsprecheransage als Varianten
für die Textsorte.
Die Gesamtsprache Deutsch
ist nur eine Abstraktion im Sinne eines Diasystems über allen
Varietäten, die man der deutschen Sprache zurechnet. Auch das „gute
Deutsch“ ist nur eine Varietät der deutschen Sprache, allerdings eine
stark idealisierte, über deren Varianten man sehr streiten kann. Hier
einige Beispiele für außersprachlich bedingte Variationsbereiche mit
zugehörigen exemplarischen Varianten und Varietäten:
Idiolektale Varianten: individuelle
Sprachgewohnheiten einer Person, z.B. das (oft ironisch imitierte) in diesem unserem Lande des
Ex-Bundeskanzlers Kohl. Idiolektale Varietäten: der Personalstil
des Philosophen Heidegger, Goethes Altersstil, Luther-Deutsch, der „dunkle
Stil“ Wolframs von Eschenbach.
Lokale (ortsdialektale)
Varianten: z.B. Berlinisch Stulle für
„bestrichene Brotscheibe“.
Lokale Varietäten: die Mundart von Oberammergau,
das Wienerische, die Prager Kanzleischreibe des 14./15. Jh.
Regionale (areale)
Varianten: in größeren Gebieten, z.B. bayerisch Haxen für Beine, süddeutsch
Bub für Junge.
Regionale Varietäten (landschaftliche
Umgangssprachen, Koine-Dialekte): Rheinisch, Kärntnisch,
Obersächsisch, „Meißnisches Deutsch“ (16./17.Jh.).
Regionale Schriftdialekte: Gemein Deutsch (15./16.JH.), „Wettinische Kanzleischreibe“
(14.-16.Jh.) usw.
StaatlicheVarianten: z.B. Abitur (BRD)/ Matura (Österreich)
/Matur, Maturität (Schweiz).
Staatliche Varietäten (im Sinne von
„staatsnational“, nicht „kulturnational“): Österreichisches Deutsch,
Schweizer-deutsch; dagegen nicht mehr als Varietät des Deutschen
einzustufen: Letzebuergesch in Luxemburg als eigene Sprache.
Politische Varianten: unterschiedlicher
Sprachgebrauch (vor allem Wortgebrauch) politischer Ideologie- und
Interessengruppen: z.B. bewaffneter Kampf
als affirmierender Ausdruck radikaler Gruppen für das, was die Gegner
und Betroffenen Terrorismus nennen.
Politische Varietäten (Politolekte): z.B.
regierungsamtlicher Verlautbarungsstil, Alternativjargon der Grünen,
Nazideutsch, Sprache der Arbeiterbewegung. Meist handelt es sich bei
politischen Varietäten nicht um geschlossene Systeme, sondern um eine
Reihe von Schibboleths (Kennwörtern) und Wortverwendungen, an denen man
die politische Ideologie oder Gruppenzugehörigkeit sprachsymptomatisch
erkennt, z.B. in den 60-er Jahren die umstrittene westdeutsche Variation Sowjetzone/Ostzone/Zone.
Soziolektale Varianten (soziale, soziolinguistische,
gruppenspezifische): z.B. jugendsprachlich Typ
für normalsprachlich Junge,
junger Mann, Mann, die Redewendung cum
grano salis im Akademikerjargon für normalsprachlich mehr oder weniger.
Soziolektale
Varietäten (Soziolekte): z.B. Bundeswehrjargon, Gastarbeiterdeutsch, Theaterjargon,
Preußischer Leutnantston, Waidmannsdeutsch, Höfisches
Mittelhochdeutsch; meist nicht geschlossene Systeme, sondern begrenzte Mengen
auffälliger gruppentypischer Varianten.
Funktionale/situative Varianten: bedingt von bestimmten
Kommunikationsfunktionen, -zwecken, Handlungstypen, Situationstypen, oft stark
konventionalisiert oder ritualisiert, mit Sanktionen bestraft bzw. belohnt:
z.B.
Gesicht/Angesicht/Antlitz/Pbysiognomie/Visage/Fresse.
Funktionale/situative Varietäten (Funktionalstile,
Funktiolekte, Situalekte, Situationsregister, Rollenregister, Fachsprachen):
z.B. Plauderton, Schmeichelton, Wahlredestil, Predigtstil, Kasernenhofton,
Gouvernantenton, Börsenjargon, Informatik-Terminologie; oft
Überschneidung mit Soziolekten (z.B. linker Soziologenjargon). Funktionale
Varietäten sind in vielen Fällen als spezielle Textsortenstile
konventionalisiert: z.B. Nachrichtenstil, Feuilletonstil, Festredestil,
Flugblattstil, Protokollstil, Geschäftsbriefstil, Telegrammstil, Urkundenstil
usw.
Historisch-stilistische
Varianten: veralteter Sprachgebrauch, der durch Kommunikation zwischen den
Generationen neben modernerem bewahrt (z.B. Steckenpferd/Hobby,
Brause/Dusche, wirklich gut/echt gut) und in manchen Fällen über
längere Zeiträume hinweg als Archaismus mit funktionalem
Variationswert konventionalisiert wird: z.B. Alma mater für Universität,
Kommilitone für Mitstudent,
Kolleg für Vorlesung im
Universitäts-Jargon; Kerker für
Gefängnis, Scherge für Polizist in politischer Polemik.
Können Sie den
Unterschied zw. Varianten und Varietäten
aufklären?
Lautwandel. Lautwandel bedeutet, daß sich die äußere Form eines Wortes
ändert. Schon wenn man sich den
obenstehenden Textabschnitt aus dem Hildebrand(s)lied genau ansieht, findet man
Beispiele für die wichtigsten Ausspracheveränderungen, die das
Deutsche im Laufe der Jahrhunderte erfahren hat:
dat > das
sitten > sitzen
arbi > Erbe
prut > Braut
min > mein
filu > viel
warun > waren
sagetun > sagten.
Wenn ein Laut (Phonem) in einer Sprache im Laufe der
Zeit anders gesprochen wird, kann dies unabhängig von den umgebenden
Lauten geschehen wie die Diphthongierung (ein langer Vokal wird zum Diphthong),
oder kann durch Stellung der Nachbarlaute u.a. bedingt sein wie der Umlaut (ein
folgendes i/j hat eingewirkt).
Manchmal betrifft ein solcher Lautwandel aber nur bestimmte Wörter wie bei
der Assimilation.
Es gibt auch einen Lautwandel, der durch Analogie bedingt ist und sich
besonders im Formensystem auswirkt, wie z.B. wenn Prät. Plur. sie sprungen durch Einwirkung des
Singulars sprang zu sie sprangen ausgeglichen worden ist.
Besonders bei früheren Sprachstufen ist es schwer, die
Dauer eines Lautwandels festzustellen. Zwischen Ausgangs- und Endstadium
können mehrere Jahrhunderte liegen. DieOrthographie gibt zwar oft
Aufschluß über die Aussprache, aber die Schreibweise kann auch
manchmal konservativ sein und die ältere Aussprache bewahren. So schreibt
man z.B. heute noch bieten,
lieb, obwohl hier seit mehr als 600 Jahren kein Diphthong mehr gesprochen wird.
Die Ursachen des Lautwandels sind noch nicht ganz
geklärt. Sprachökonomie und Bequemlichkeit (Zaubererin > Zauberin)
sowie soziale und politische Faktoren wie Mode, Prestige, Völkermischung
und Sprachkontakt spielen jedoch eine große Rolle.
Wichtig für die lautliche Entwicklung der germanischen Sprachen ist
der Akzentwandel, der durch verstärkten Atemdruck auf die erste Silbe z.B.
zu Kürzung und Schwund von Endsilben und Vokalschwächung führte.
Manchmal bewirkt eine Lautveränderung also eine andere. Sie kann aber auch
lexikalische, morphologische und syntaktische Veränderungen verursachen:
Wörter verschwinden, weil sie undeutlich geworden sind; Veränderungen
oder Wegfall der Endungen stören die normalen Funktionen des grammatischen
Systems und führen zu einem analytischeren Sprachbau.
Morphologische
und syntaktische Veränderungen. Anhand von Beispielen aus dem Hildebrand(s)lied lassen sich auch leicht
Veränderungen in Morphologie und Syntax feststellen:
sinero degano > seiner
Degen
arbeo laosa > erblos
prut in bure > die
Frau in dem Haus
dat Hiltibrant haetti min fater >
daß mein Vater Hildebrand hieße
In den germanischen Sprachen läßt sich von
ältester Zeit bis heute die Entwicklung von einem stark synthetischen zu
einem analytischeren Sprachbau verfolgen: Das Ahd. (Deutsch von ca. 770 bis ca.
1050) verfügt noch über ein reiches Endungssystem und konnte durch
dieses grammatische Beziehungen ausdrücken, für welche heute
umschreibende Funktionswörter zur Verfügung stehen. Die vielen ahd. Deklinationsendungen sind ziemlich leicht
erkennbare Bezeichnungen für Genus und Kasus (ähnlich wie in den
slawischen Sprachen, im Latein und Griechischen). Nachdem aber das
Endungssystem undeutlich geworden war, mußten Genus und Kasus auf andere
Art angezeigt werden. Im heutigen Deutsch geschieht dies durch den bestimmten
und unbestimmten Artikel, attributive Pronomina und stark flektierte Adjektive,
während am Substantiv nur noch Überreste des früheren Systems zu
erkennen sind: -s im Genitiv
Singular, -n im Dativ Plural. Hieran zeigt sich aber auch, daß die
Sprache auf redundante Elemente verzichten kann, vgl. z.B. das allmähliche
Verschwinden des Dativ-e. In vielen Mundarten hat das Substantiv heute
überhaupt keine Kasusendungen mehr im Singular.
Ebenso war im Ahd. bei den deutlichen Personenendungen der Verben das
Subjektspronomen überflüssig, wie noch immer in den romanischen
Sprachen mit Ausnahme des Französischen.
Gebrauch und Anzahl der Präpositionen haben im Laufe der Zeit auf
Kosten der Kasus zugenommen. Im Althochdeutschen waren Genitiv und Dativ
häufiger als heute und noch früher, im Indoeuropäischen, gab es
auch andere Kasus, die z.B. im Slawischen erhalten geblieben sind. Dinu speru 'mit deinem Speer' ist ein
Beispiel eines im Germanischen verschwindenden Kasus, Instrumentalis, der nur
noch ab und zu im ältesten Ahd. vorkommt.
Hierher gehört auch die Herausbildung der Hilfsverben. Im Latein
werden z.B. Perfekt, Plusquamperfekt, Futur und Passiv durch Endungen
bezeichnet, während es im heutigen Deutsch Hilfsverben gibt:
tempusbildende (sein, haben, werden),
passivbildende (werden) und
konjunktivumschreibende (würde).
Die Wortstellung war im Germ. und auch noch
in ahd. Zeit viel freier als heute. Die Endstellung des Verbs war zwar auch
schon im ältesten Deutsch möglich, wurde aber erst im Fnhd.
allmählich in der Schriftsprache vorherrschend und von den Grammatikern
des 18. Jh. zur Norm erhoben. Wenn hier das lat. Vorbild mitgewirkt hat, kann
man gewissermaßen von Lehnsyntax sprechen, d.h. die lateinische Syntax
hat die deutsche beeinflußt. Andere Fälle von Lehnsyntax aus dieser
Zeit sind die Partizipialkonstruktionen und das erweiterte Attribut.
Bedeutungswandel. Im Laufe der Zeit ändert sich nicht nur die
äußere Form der Wörter (Lautwandel), sondern auch deren
Bedeutung. Arten des Bedeutungswandels sind:
Bedeutungsverengung. Der Bedeutungsumfang eines Lexems verkleinert sich,
weil zu den ursprünglichen semantischen Merkmalen
noch weitere hinzukommen, die die Bedeutung einschränken. Die Extension
des Lexems verengt sich: Hochzeit: früher (hôch(ge)zît): kirchliches oder weltliches Fest oder einfach Freude
[+Fest] [+weltlich] [+kirchlich] [+Freude] [+Stimmung] ® [+Fest] [+weltlich] heute: kirchliches
oder weltliches (Standesamt) Fest der Eheschließung [+kirchlich]
[+Freude] [+Stimmung] +Eheschließung].
Bedeutungserweiterung. Der Bedeutungsumfang eines Lexems wird erweitert, weil
einige der ursprünglichen semantischen Merkmale – und somit auch
Bedeutungseinschränkungen – wegfallen. Die Extension des Lexems erweitert
sich. Mit Horn wurde früher nur
das Horn der Tiere bezeichnet. Heute kann man immer noch Tierhörner so bezeichnen, aber auch z.B. Blasinstrumente und Trinkgefäße.
Vgl. auch: fertig heißt ursprünglich „zur Fahrt
gerüstet“, jetzt allgemeiner „bereit“ und „beendet“. In einer Herberge
wurde urspr. nur das Heer untergebracht, dann bekam das Wort die weitere
Bedeutung „Unterkunft für Fremde“. Zu den Bedeutungserweiterungen
gehören viele Ausdrücke, die methaphorisch verwendet werden, z.B. Esel,
das auch in der Bedeutung „dummer Mensch“ gebraucht werden kann.
Bedeutungsverschiebung. Die Bedeutungsverschiebung wird auch
Bedeutungsübertragung genannt. Bei dieser Form des Bedeutungswandels kann
man die eigentliche Wortbedeutung nicht mehr feststellen bzw. nur noch erahnen,
z.B. elend „unglücklich, ärmlich“ ¬ ahd. elilenti
„in einem anderen fremden Land, ausgewiesen“. In diese Gruppe gehören
besonders Wörter, die durch metaphorischen Sprachgebrauch ihre Bedeutung
geändert haben.
Bedeutungsverbesserung. Bedeutungsverbesserung kommt viel seltener vor als
Bedeutungsverschlechterung. Bei der Bedeutungsverbesserung nimmt ein Ausdruck
eine Bedeutung an, die in der jeweiligen Gesellschaft als
nützlicher/wertvoller gilt. Für diese Form des Bedeutungswandels sind
oft soziologische Faktoren ausschlaggebend. So war der Marschall zunächst Pferdeknecht, dann Stallmeister, danach
Hofbeamter, später der oberste Befehlshaber der Reiterei und seit dem 16.
- 17. Jh. der höchste militärische Rang. Eine recht seltene Ausnahme
ist Mordskerl. Mord ist bis heute negativ konnotiert, und Kerl kann sowohl positiv („Ein toller Kerl“) als auch negativ sein.
Nur im Kompositum Mordskerl erfahren
die beiden Wörter eine Bedeutungsverbesserung.
Bedeutungsverschlechterung. Bedeutungsverschlechterung ist eine verbreitete Form
des Bedeutungswandels. Ganz allgemein kann man sagen, daß die Bedeutung
sozial, moralisch oder auch stilistisch „schlechter“ bzw. weniger anerkannt
wird. Ein klasssiches Beispiel für Bedeutungsverschlechterung ist Dirne:
junges Mädchen > dienendes junges Mädchen > Hure,
Prostituierte. In diesem Fall handelt es sich um ein Zusammenspiel von
Bedeutungsverschlechterung und Bedeutungsverengung. Auch albern hat
einen sehr interessanten Bedeutungswechsel durchlaufen: von „ganz, (=all) wahr,
wahrhaftig, gütig“ und „freundlich“ über mehrere
Entwicklungsstufen zu heutigen „lustig,
ohne rechte Ursache, lächerlich“.
Veränderung der
Sache. Oft tragen Wörter noch
ihre ursprüngliche Bezeichnung, ihre Bedeutung aber wurde etwa durch
technische Innovationen, kulturelle oder gesellschaftliche Entwicklungen
verändert. Haben Sie sich z.B. schon einmal gefragt, warum der in Deutschland
so beliebte Schweinsknochen mit Fleisch Eisbein
heißt? Das Eisbein war
ursprünglich ein Röhren- oder Schienbeinknochen größerer
Tiere, der sich zur Herstellung von Schlittschuhkufen eignete. Natürlich
werden Schlittschuhkufen mittlerweile aus Metall hergestellt, die Bezeichnung
für diesen speziellen Knochen aber hat sich erhalten. Fräulein war bis zum 18./19. Jh. die Bezeichnung für eine
unverheiratete adelige Dame. So z. B. bei Goethe „FAUST: Mein schönes Fräulein, darf ich wagen, Meinen Arm und
Geleit Ihr anzutragen? MARGARETE. Bin weder Fräulein, weder schön,
Kann ungeleitet nach Hause gehn“. Heute hat sich die Gesellschaftsstruktur
verändert, und die Standesunterschiede werden in dem Maße nicht mehr
ausgedrückt. Trotzdem hat sich die Bezeichnung Fräulein teilweise
erhalten.
Ursachen des
Bedeutungswandels. Es ist sicher
interessant, die verschiedenen Arten des Bedeutungswandels zu betrachten.
Darüber hinaus muß man sich aber auch fragen, warum sich Wortbedeutungen verändern. Sind die Änderungen
völlig willkürlich oder gibt es Tendenzen und
Gesetzmäßigkeiten? Meist tragen mehrere (z.B. soziale,
geschichtliche oder politische) Faktoren dazu bei, daß sich
Wortbedeutungen verändern.
Die deutsche Gegenwartssprache, ihre Existenzformen und die nationalen Varianten
der deutschen Sprache. Die deutsche
Gegenwartssprache hat einige historisch bedingte Existenzformen:
1) die
gemeindeutsche nationale Literatursprache;
2) deutsche
Territorialdialekte (Lokalmundarten);
3)
städtische Halbmundarten und Umgangssprache.
Die wichtigste
Existenzform der deutschen Gegenwartssprache ist die deutsche nationale
Literatursprache (Hochdeutsch, Hochsprache). Sie ist in den deutschsprachigen
Staaten die Sprache der Literatur und Kultur, der Wissenschaft, der Presse, des
Rundfunks und des Fernsehens, die Amtssprache und Schulsprache, die Sprache des
öffentlichen Verkehrs und auch die gepflegte Sprache des privaten Umgangs
(die literatursprachliche Alltagssprache).
In den
deutschsprachigen Ländern weist die deutsche Literatursprache gewisse
Eigenheiten im Wortschatz, in der Aussprache, in Wort - und Formenbildung auf.
Man
unterscheidet nationale Varianten der deutschen Literatursprache
Deutschlands, Österreichs und der Schweiz. So sagt man in Österreich Jänner für Januar, Kleiderkasten für Kleiderschrank.
In der Schweiz heißt es Rundspruch
für Rundfunk, anläuten für anrufen u.a.m.
Deutsche
Territorialdialekte sind die älteste Existenzform der deutschen Sprache.
Sie haben sich im mittelalterlichen Deutschland gebildet. Heute sind sie in
schnellem Rückgang begriffen. Man teilt die deutschen Territorialdialekte
in Niederdeutsch (Plattdeutsch) und Hochdeutsch ein, Hochdeutsch gliedert sich
in Mitteldeutsch und Oberdeutsch unter.
Dialekt oder
reine Mundart wird heutzutage nur von den älteren Leuten in Dörfern
und gebirgigen Gegenden gesprochen.
Also der
Terminus „Hochdeutsch“ hat zwei Bedeutungen:
1) hochdeutsche
Dialekte (Mitteldeutsch und Oberdeutsch);
2) Hochsprache
zum Unterschied von den Mundarten und von der Umgangssprache. Städtische Halbmundarten
und Umgangssprache stehen zwischen der Literatursprache und Lokalmundarten
(Territorialdialekten). Sie sind eine weit verbreitete Sprachform. Die
städtischen Halbmundarten bilden sich in der frühbürgerlichen
Zeit mit dem Aufkommen und mit dem Wachstum der Städte durch
Sprachmischung und Sprachausgleich heraus. Sie haben die primären Merkmale
der Mundarten eingebüßt (beseitigt) und nur die sekundären, die
weniger auffälligen Besonderheiten der heimischen Mundarten beibehalten,
z.B. im Berlinischen heißt es Jans
für Gans, oder Kopp für Kopf.
Heutzutage sind
großlandschaftliche Umgangssprachen bzw. Ausgleichssprachen (z.B.
Obersächsisch, Berlinisch, Pfälzisch, Bairisch, Schwäbisch,
Württembergisch u.a.) die Hauptarten der Umgangssprache nicht nur in den
städtischen und Industriegebieten, sondern auch auf dem Lande. Sie
existieren parallel zur literatursprachlichen Alltagsrede und unterscheiden
sich von ihr durch größere oder geringere landschaftliche
Färbung.
Verwandschaftsbeziehungen der deutschen Sprache. Die deutsche Sprache gehört zum germanischen Sprachzweig der
indoeuropäischen Sprachfamilie. Die Verwandtschaft der germanischen
Sprachen beruht auf gemeinsamer Abstammung von den Stammesdialekten der alten
Germanen. Sie lebten um die Mitte des 1. Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung
rund um die westliche Ostsee, zwischen der Oder und der Elbe, in Jütland
und in Skandinavien und waren in einige große Stammesverbände
zusammengeschlossen. Mit dem Wachstum der Stämme vollzog sich ihre
Aufspaltung und das brachte noch vor Beginn unserer Zeitrechnung die
sprachliche Aufspaltung herbei. Aus den germanischen Stammesdialekten bildeten
sich später germanische Sprachen (s. die Graphik im Vorsatz).
Man gliedert
auch die altgermanischen Sprachen in drei Gruppen:
1) nordgermanische (oder skandinavische)
Sprachen (Altschwedisch, Altnorwegisch,
Altisländisch);
2) westgermanische Sprachen (Altenglisch, Althochdeutsch,
Altniederländisch, Altfriesisch);
3) ostgermanisch (Gotisch existierte bis
zum 7. Jahrhundert).
Heutzutage
werden zwei Gruppen der germanischen Sprachen unterschieden:
Nordgermanische (skandinavische) Sprachen:
1. Schwedisch.
2. Dänisch.
3. Norwegisch.
4. Isländisch.
5. Färöisch (die Sprache der Färöer, wird auf den
Färöen - Inselgruppe im Nordatlantik gesprochen).
Westgermanische Sprachen:
1. Deutsch.
2. Englisch.
3. Niederländisch.
4. Friesisch (in den Niederlanden, Niedersachsen, auf den Friesischen
Inseln).
5. Afrikaans
(eine der Staatssprachen der Republik Südafrika, neben Englisch).
Die Verwandschaft
der germanischen Sprachen kann man auch heute trotz jahrhundertelanger
eigenständiger Entwicklung feststellen. Sie kommt:
a)
im gemeingermanischen
Wortschatz;
b)
in der Morphologie;
c)
in der Wortbildung
zum Ausdruck.
a)
Der gemeingermanische
Wortschatz, z.B.:
Deutsch |
Vater |
Wort |
bringen |
Englisch |
father |
word |
bring |
Niederländisch |
vader |
woord |
brengen |
Schwedisch |
fader |
ord |
bringa |
b)
Der Ablaut der starken
Verben, z.B.:
Deutsch |
trinken - trank - getrunken |
Englisch |
drink - drank - drunk |
Niederländisch |
drinken - dronk - gedronken |
Schwedisch |
dricka - drack - drucken |
c)
Wortbildunssuffixe:
Deutsch |
-schaft - Freundschaft |
Englisch |
- ship - friendship |
Niederländisch |
- schaß - vriendschaß |
Schwedisch |
- skap - vänskap |