Lektion 6

Mittelhochdeutsche Verben. An den grammatischen Kategorien hat sich vom Ahd. zum Mhd. kaum etwas geändert. Das Mhd. hat wie das Ahd. zwei synthetisch gebildete Tempora: Präsens und Präteritum. Zusätzlich haben sich im Mhd. drei zusammengesetzte Zeiten gebildet: Perfekt, Plusquamperfekt und Futur, das System der zusammengesetzten Formen ist jedoch, wie oben bereits erwähnt, erst im späten Mittelalter ausgebildet. Als Modus, Numerus und Genus verbi hat das Mhd. wie das Ahd. Indikativ, Konjunktiv und Imperativ, Singular und Plural, ein synthetisch gebildetes Aktiv und ein umschriebenes Passiv.

Im Mhd. werden die Vokale der „nichtstarktonigen Silben“ zu -e- abgeschwächt. Dadurch sind die drei Klassen der schwachen Verben fast nicht mehr zu erkennen, und die Konjunktivformen entsprechen weitgehend den Indikativformen, da die „Moduszeichen“ -ê- und -î- durch die Abschwächung zu -e- verschwinden. Durch die Endsilbenabschwächung fallen im Mhd. auch Personalformen zusammen, und die Personalendungen der Verben verlieren dadurch zum Teil ihre grammatische Funktion, die deshalb auf „regelmäßig hinzutretende Personalpronomina“ übergeht. Insgesamt wurde die Formenvielfalt des Ahd. durch den Endsilbenverfall erheblich reduziert.

Die Formenbildung der mhd. Verben. Wie zu ahd. Zeit gibt es auch in der Zeit des Mhd. noch keine einheitliche deutsche Sprache. Im 12./13. Jh. bildete sich jedoch auf der Grundlage der verfeinerten höfischen Sprache eine Literatursprache, das „klassische Mittelhochdeutsch“, heraus, das „die Ansätze zu einer Gemein- und Einheitssprache in sich birgt“, jedoch auch regionale Unterschiede erkennen läßt.

Im folgenden wird nicht jede einzelne Form besprochen, da weniger Schwankungen vorkommen als im Ahd. und die Personalendungen dem Nhd. stärker gleichen als im Ahd. Die folgenden Paradigmen sind aus der Grammatik von Paul, Wiehl, Grosse übernommen.

 

Starkes Verb im Mittelhochdeutschen: Ablautreihen

 

 

Infinitiv

1. Pers. Sing. Ind. Präs.

1. u. 3. Pers. Sing. Ind. Prät.

1. u. 3. Pers. Plur. Ind. Prät.

Part. Prät.

I. a)

rîtten

rîte

reit

riten

geriten

b)

zîhen

zîhe

zêh

zigen

gezigen

II. a)

biegen

biuge

bouc

bugen

gebogen

b)

bieten

biute

bôt

buten

geboten

III. a)

binden

binde

bant

bunden

gebunden

b)

werfen

wirfe

warf

wurfen

geworfen

IV.

nemen

nime

nam

nâmen

genomen

V.

geben

gibe

gap

gäben

gegeben

VI.

vam

var

vuor

vuoren

gevam

VII.

râten

râte

riet

rieten

gerâten

 

Präsens: Indikativ u. Konjunktiv

 

 

Indikativ

Konjunktiv

1. Sg.

nime

neme

2. Sg.

nimest

nemest

3. Sg.

nimet

neme

1. Pl.

nemen

nemen

2. Pl.

nemet

nemet

3. Pl.

nement

nemen

 

Die Bindevokale aller Formen sind zu -e- abgeschwächt. Die Formen der starken und schwachen Verben müssen daher nicht gesondert besprochen werden, da sie keine Unterschiede mehr aufweisen. Bis auf die 3. Sg. und Pl. unterscheiden sich auch die Indikativformen nicht mehr von den Konjunktivformen. Als Endung der 1. Pl. Ind. Präs., die im Ahd. ursprünglich -mês war, hat sich im Mhd. die ursprüngliche Konjunktivendung -en durchgesetzt. In der 2. Sg. ist das -t, das durch das Anfügen des Personalpronomens thu an die Verbform gefügt wurde, fester Bestandteil der Endung geworden.

Präteritum: Indikativ u. Konjunktiv

 

starke Verben

schwache Verben

 

Konjunktiv

Indikativ/Konjunktiv

1. Sg.

næme

hôrte

2. Sg.

næmest

hôrtest

3. Sg.

næme

hôrte

1. Pl.

næmen

hôrten

2. Pl.

næmet

hôrtet

3. Pl.

næmen

hôrten

 

Die Stammbildung des Präteritums im Mhd. weicht bei starken und schwachen Verben nicht vom Ahd. ab. Die Flexionsendungen der starken und schwachen Verben unterscheiden sich im Indikativ Singular. Die Konjunktivformen der starken und schwachen Verben sind gleich.

 

Partizipien

 

Partizip Präsens

Partizip Präteritum

starke Verben

schwache Verben

starke Verben

schwache Verben

nemende

suochende

genomen

gesuochet

 

Auch beim Partizip sind die Vokale aller unbetonten Silben zu -e- abgeschwächt, ansonsten unterscheidet sich die Bildung des Partizips Präsens und Präteritum nicht vom Ahd.

Der Gebrauch der Tempusformen im Mhd. Im Mhd. ist die Bildung zusammengesetzter Zeiten weiter fortgeschritten als im Ahd. Als zusammengesetzte Tempora kennt das Mittelhochdeutsche das Perfekt, das Plusquamperfekt, das Futur I und II. Diese Formen werden aus einem konjugierten Hilfsverb und einer infiniten Verbform gebildet. Das Partizip Präteritum wird also nicht mehr flektiert, es scheint demnach seine Bedeutung innerhalb der zusammengesetzten Form verändert zu haben.

Die synthetisch gebildeten Tempora. Die Bedeutung der synthetisch gebildeten Tempora erscheint im Mhd. vielschichtiger als im Ahd. Allerdings ist zu beachten, daß aus dem Mhd. zahlreichere Texte überliefert sind als aus ahd. Zeit und daß die Grammatiken bei der Untersuchung des Gebrauchs der ahd. Tempusformen nur Aussagen über die Bedeutung der Tempora in den überlieferten Texten machen können.

Indikativ Präsens. Das Präsens kann im Mhd. verschiedene Zeitstufen bezeichnen. Es kann Gegenwärtiges ausdrücken:

Wahter, du singest daz mir manege vroude nimt unde mêret mîne clage – „Wächter, du singst, was mir manche Freude nimmt und meine Klage mehrt.“

Das Präsens kann aber auch als atemporales Präsens für die Bezeichnung von Allgemeingültigem verwendet werden. Hartmann von Aue schreibt beispielsweise über den Pfad der Sünde, und was er darüber sagt, hat für alle Menschen zu jeder Zeit Gültigkeit:

der enhât stein noch stec, mos gebirge noch walt, der enhât ze heiz noch ze kalt. man vert in âne des lîbes nôt, er leitet ûf den êwigen tôt „Der ist nicht steinig, nicht schmal, hat weder Moor noch Gebirge noch Wälder, ist nicht zu heiß und nicht zu kalt. Wohl geht man ihn ohne Beschwerden, doch führt er in den ewigen Tod.“

Weiterhin kann das Präsens benutzt werden, wenn verstorbene Autoritäten zitiert werden.

Das Mhd. kennt auch das historische Präsens, also die Präsensform mit Vergangenheitsbedeutung, die zur Auflockerung und zur Belebung von vergangenem Geschehen dient, allerdings tritt das historische Präsens nur selten in der mhd. Literatur auf:

do was im kvndikeite zit. er sihet wo ein rone lit, dar vnder tet er einen vanc. manic hvnd dar vber spranc – „So war es höchste Zeit für eine List. Er erblickt einen umgestürzten Baumstamm und springt rasch darunter. Die Hunde sprangen alle darüber...“

Die Präsensform in einer Erzählung in der Vergangenheit kann jedoch auch Gegenwartsbedeutung haben. Dieser Gebrauch des Präsens wird als „Präsens des Verweilens“ oder als „Autorpräsens“ bezeichnet. Innerhalb einer Erzählung im Präteritum können durch den Gebrauch des Präsens die Figuren vom Erzähler aus der vergangenen Handlung in die Gegenwart des Autors gehoben werden. Oft wird eine solche Unterbrechung der Handlung mit oder hie eingeleitet. Dieses Präsens wird auch verwendet, wenn der Autor die Handlung unterbricht, um die handelnden Figuren oder den Hörer anzusprechen. Dieser Gebrauch des Präsens ist nicht mit dem Gebrauch des historischen Präsens zu verwechseln.

Nach Weinrich findet hier innerhalb eines Textes ein Wechsel vom Tempus der erzählten Welt zum Tempus der besprochenen Welt statt. Die „entspannte Haltung“ der „Erzählsituation“ wird zugunsten der „gespannte[n] Haltung“ der „nicht-erzählenden Sprechsituation“ verlassen. Dieser plötzliche Tempuswechsel bewirkt beim Zuhörer eine Steigerung seiner Aufmerksamkeit. Im folgenden Beispiel aus dem Parzival stellt der Autor mitten in das vergangene Geschehen einer Frage an sich selbst, die er im Präsens formuliert. Auf diese Frage folgt eine weitere Passage im Präsens, in der er zunächst über die Figuren als gegenwärtig redet und sie danach auch anspricht.

den heiden minne nie verdrôz: des was sîn herze in strîte grôz. gein prîse truog er willen durch die künegîn Secundillen, diu daz lant ze Tribalibôt im gap:[...] der heiden nam an strîte zuo: wie tuon ich dem getouften nû? ern welle an minne denken, sone mag er nicht entwenken, dirre strît müez im erwerben vor des heidens hant ein sterben. daz wende tugenthafter grâl: Condwîr âmûrs diu lieht gemâl „Der Heide diente beharrlich um Liebeslohn, und das stärkte sein Herz auch für den Kampf. Er stritt um Heldenruhm im Dienste der Königin Secundille, die ihm das Reich Tribalibot geschenkt hatte. [...]der Gedanke an seine Geliebt mehrte die Kraft des Heiden. Doch was fange ich nun mit dem Christen an? Wenn er sich nicht auf die Macht der Liebe besinnt, bringt ihm in diesem Kampfe die Hand des Heiden unfehlbar den Tod. Verhüte das, allgewaltiger Gral, und du bezaubernde Condwiramrus!“

Mit den Formen des Präsens kann im Mhd. auch zukünftiges Geschehen bezeichnet werden:

ich behüete vil wol daz, daz ich im kome sô nâhen – „ich werde mich davor hüten, ihm so nahe zu kommen“.

Durch das Präfix ge- oder durch Adverbien wird die Zukunftsbedeutung der Präsensform noch verstärkt:

ich weiz wol waz Kriemhilt mit disem scatze getuot – „...tun wird“,  die nu vil lîhte mîn enbernt, die windent noch ir hende „werden noch ihre Hände winden“.

Indikativ Präteritum. Mit dem Präteritum können im Mhd. alle Stufen der Vergangenheit bezeichnet werden. Im Oberdeutschen ist das Präteritum geschwunden und durch das Perfekt ersetzt worden. Als „episches Präteritum“ ist es das Tempus des Erzählens, mit dem vergangenes Geschehen objektiv geschildert wird:

Ein keiser Otte was genant, des magencrefte manic lant mit vorhten undertænic wart. – „Ein Kaiser hieß Otto. Viele Länder waren seiner Majestät mit Furcht und Zittern untertan.“

Wenn vergangenes Geschehen aus subjektiver Sicht erzählt wird oder wenn es Bezug zur Gegenwart hat, kann das Präteritum Perfektbedeutung haben:

ich liez ein lant dâ ich krône truoc – „ich habe ein Land verlassen...“

Besonders bei Verben, die an sich schon perfektive Bedeutung haben, ist das häufig der Fall. In einem Satzgefüge kann im ersten Glied ein umschriebenes Perfekt vorkommen, auf das Imperfektformen folgen. Durch die zusammengesetzte Perfektform wird dann deutlich, daß auch die folgenden Imperfektformen Perfektbedeutung haben. Mit den Imperfektformen kann auch die Vorvergangenheit ausgedrückt werden. Oft ist ein ge- Präfix vor die Imperfektform gestellt, wodurch gekennzeichnet wird, daß diese Form Plusquamperfektbedeutung hat:

schoen unde lanc was im der bart, wand er in zôch vil zarte, und swaz er bî dem barte geswuor, daz liez er allez wâr. – „Er hatte einen schönen langen Bart, denn er pflegte ihn sehr sorgfältig; und alles, was er je bei diesem Bart geschworen hatte, das erfüllte er haargenau.“

Das Präteritum kann im Mhd. auch mit sehr geringem zeitlichem Bezug als sogenanntes „gnomisches Präteritum“ in sentenzartig formulierten Sätzen gebraucht werden. Das Präteritum drückt in solchen Fällen „allgemeine Erfahrung[en]“ aus, es gleicht also dem atemporalen Präsens:

sîn triuwe hât so kurzen zagel, daz si den dritten biz niht galt, vuor si mit bremen in den walt. – „Die Zuverlässigkeit solcher Gesinnung hat einen so kurzen Schwanz, daß sie schon den dritten Stich nicht mehr abwehren kann, wenn im Walde die Bremsen über sie herfallen.“

Der Gebrauch des Konjunktivs. Mit dem Konjunktiv können im Mhd. „Wunsch, Befehl oder Verheißung“ sowie „Irrealität oder Potentialität“ ausgedrückt werden. Der Konjunktiv bezeichnet demnach, wie im Kapitel über das Ahd. Verb bereits erläutert wurde, nicht die grammatische Kategorie Tempus, sondern die Kategorie Modus.

Das Mhd. kennt den Konjunktiv Präsens und den Konjunktiv Präteritum, deren Funktion hier im einzelnen nicht dargestellt wird, wichtig ist hier lediglich, daß durch diese beiden Konjunktivformen kein Tempusunterschied gekennzeichnet wird, sondern eine unterschiedliche „Art der Modalität“. Wenn der Konjunktiv im Mhd. im Nebensatz steht, kann jedoch „dieser Bedeutungsunterschied zwischen Konj. Präs. und Konj. Prät [...] aufgehoben“ werden, da sich die Form des Konjunktivs, wie schon im Ahd., nach der Tempusform des Hauptsatzes richtet.

Ist der Hauptsatz ein Imperativsatz oder steht er im Präsens oder im umschriebenen Perfekt, folgt in der Regel ein Konjunktiv Präsens, steht der Hauptsatz im Präteritum, folgt dagegen der Konjunktiv Präteritum. Dies gilt allerdings nur, wenn kein zeitlicher Unterschied zwischen der Aussage des Haupt- und Nebensatzes gekennzeichnet werden soll. Die modale Bedeutung der Konjunktivform kann also durch das Tempus des Hauptsatzes abgeschwächt werden.

Wenn allerdings ein Konjunktiv Präteritum im Nebensatz eines Hauptsatzes vorkommt, der im Präteritum steht, kann dieser Konjunktiv eine „präteritale“ Zukunft bezeichnen. Die Konjunktivform erhält dadurch einen zusätzlichen Zeitbezug:

er weste wol daz Keiî in niemer gelieze vrî vor spotte – „er wußte wohl, daß Keiî ihn nicht verschonen würde“.

Der Konjunktiv Präsens kann im konjunktionalen Nebensatz, wenn er durch Verben mit perfektiver Bedeutung gebildet wird, die Bedeutungsnuance einer vollendeten Zukunft haben:

swenne ich sî verdorben unde ich lige erstorben durch daz keiserlîche wîp, sô heiz mir snîden ûf den lîp... – „Wenn ich gestorben bin und tot daliege....“

Zusammengesetzte Formen. Das zusammengesetzte Perfekt wird aus dem Präsens von haben oder sîn und dem Partizip Präteritum gebildet. Das umschriebene Plusquamperfekt setzt sich aus der Imperfektform von haben oder sîn und dem Partizip Präteritum zusammen. Es läßt sich nicht genau festlegen, wann die Formen von haben und wann die Formen von sîn gebraucht werden. Ungefähr lassen sich transitive Verben und intransitive Verben mit imperfektiver Bedeutung den Formen von haben zuordnen. Intransitive Verben, die eine Orts- oder Zustandsveränderung bezeichnen, bilden die umschriebenen Formen dagegen mit sîn.

Der Gebrauch des umschriebenen Perfekts und Plusquamperfekts. Das umschriebene Perfekt kann sowohl Zukunfts- als auch Perfektbedeutung haben. Futurbedeutung hat es deshalb, weil es mit der Präsensform von haben oder sîn gebildet wird und das Präsens im Mhd. auch Zukunftsbedeutung hat. Durch die Zusammensetzung der Präsensform mit dem Partizip Präteritum wird ein in der Zukunft bereits vollendet gedachter Sachverhalt, also das Futur II, ausgedrückt, was auch im Nhd. durchaus möglich ist:

is rother dar under, den habe wir schire wunden – „wenn Rother darunter ist, den haben wir gleich gefunden' oder: '...den werden wir gleich gefunden haben.“

Die umschriebenen Perfektformen können jedoch auch ein in der Vergangenheit abgeschlossenes Geschehen, das in die Gegenwart hineinwirkt, bezeichnen:

wie stêtz iu umben grâl? habt ir geprüevet noch sîn art? – „wie steht es um Eure Sache mit dem Gral? Habt Ihr endlich sein Wesen kennengelernt? Was hat Euch Eure Fahrt gebracht?“.

Mit dem umschriebenen Plusquamperfekt wird im Mhd. wie im Nhd. die Vorvergangeheit bezeichnet:

dô was diu vrouwe Prünhilt vol hin unz an den tisch gegân – „Da war Brünhilde ganz bis zu ihrem Tisch gegangen“.

Der Gebrauch des umschriebenen Futurs. Die umschriebenen Futurformen entwickeln sich aus Zusammensetzungen der Modalverben suln, wellen und müezen mit einem Infinitiv. Durch den modalen Charakter dieser Verben wird einerseits der Zusammenhang zwischen dem „Verbalvorgang“ und dem Willen des Subjekts gekennzeichnet, andererseits beinhalten sie, daß der „Verbalvorgang“ noch nicht stattgefunden hat, denn das Subjekt „soll“, „will“ oder „muß“ ja noch handeln. Im Mhd. kann innerhalb eines Textes sowohl der modale als auch der temporale Aspekt überwiegen. Im folgenden Beispiel aus dem Nibelungenlied überwiegt die temporale Komponente von suln mit Infinitiv:

diu mære, diu ich bringe, sol ich iu willeclîchen sagen – „die Botschaft, die ich bringe, werde ich Euch gern sagen“,

einige Sätze später heißt es:

ir sult si lâzen hoeren mich unt mîne man – „ihr sollt sie mich und meine Mannen hören lassen“,

hier hat suln rein modale Bedeutung.

Die modale Bedeutung ist bei müezen mit Infinitiv stärker als bei suln, auch ist die temporale Bedeutung viel seltener. Im folgenden Beispiel kann müezen rein zeitlich, aber auch modal zu verstehen sein:

si gedahte in ir sinne: "und sol ich mînen lîp geben einem heiden des muoz zer werlde immer schande hân – „Sie dachte bei sich: wenn ich meinen Körper einem Heiden schenke, muß/werde ich bei den Leuten immer Schande haben“.

Bei wellen mit Infinitiv überwiegt die modale Bedeutung, die temporale Komponente kann jedoch auch sehr stark sein:

nu lâzet iuwer weinen: si wellent schiere komen – „Nun laßt Euer weinen, sie werden glänzend kommen“.

Hier hat wellen rein temporale Bedeutung.

Umschriebene Formen mit werden kommen im Mhd. zunächst nur mit dem Partizip Präsens vor und bezeichnen den Beginn eines Geschehens, also die inchoative Aktionsart. Da das Verb werden jedoch keinen „ausdehnungslosen Punkt zwischen Vergangenheit und Zukunft“ bezeichnen kann, erhält diese Umschreibung allmählich Zukunftsbezug:

ir werdent mich ain clain zît niht sehende. un dar nach so werdent ier mich ain clain zît aber sehende.

Seit der 2. Hälfte des 14. Jh. werden Futurumschreibungen aus werden mit Infinitiv üblich: sô wirt er spechen.

Daß sich die Futurumschreibungen aus Bezeichnungen der Modalität entwickelt haben, wird noch im Nhd. daran deutlich, daß die Futurformen auch rein modale Bedeutung annehmen können. So wird z.B. in dem Satz 'Du wirst müde sein.' keine Aussage über einen Zustand, der in der Zukunft liegt, gemacht, sondern es wird eine Möglichkeit bezeichnet. Genauso hat der Satz 'Du wirst jetzt ruhig sein' mehr imperativische als temporale Bedeutung.

 

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