Lektion 1

Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte. Die zeitliche Abgrenzung der einzelnen Sprachstufen ist umstritten und uneinheitlich. Es gibt viele plausible Ansätze dazu, die entweder an innersprachlichen Kriterien (z.B. Lautwandel) oder außersprachlichen Kriterien (literarische bzw. kulturelle Epochen, Ereignisse) festmachen, wann ein Übergang von einer Sprachstufe zur nächsten vollzogen wurde. So vielfältig wie die Periodisierungsansätze sind auch die Bezeichnungen der Sprachstufen und deren Anzahl. Wir halten uns hier an folgende grobe Gliederung, die im Wesentlichen mit der Periodisierung von J.Grimm übereinstimmt:

Sprachstufe

Zeitraum

Kriterium

Indogermanisch

ca. 5000 ~ 1500 v. Chr.

 

Gemeingermanisch

ca. 1500 v. Chr. ~ 500 n. Chr.

1. Lautverschiebung setzt ein

Althochdeutsch

ca. 500 ~ 1050

2. Lautverschiebung setzt ein

Mittelhochdeutsch

ca. 1050 ~ 1350

Vokalentwicklung: Nebensilbenabschwächung

Frühneuhochdeutsch

ca. 1350 ~ 1650

Vokalentwicklung: Diphthongierung schließt ab; soziokulturelle Kriterien

Neuhochdeutsch

ca. 1650 ~ 1900

soziokulturelle Kriterien

Deutsch von heute

seit ca. 1900

soziokulturelle Kriterien

Vorgeschichte der deutschen Sprache

Indogermanisch. Das Ur-Indogermanische ist schätzungsweise 5000 - 3000 v.Chr. entstanden, über sein Ursprungsgebiet gibt es keine Klarheit. Die Indogermanen sind aber vermutlich die Träger der Kurgan-Kultur (sog. „Schnurkeramiker“), die um 5000 v.Chr. nördlich des Kaspischen Meeres existierte. Anhand von Gemeinsamkeiten im Vokabular für bestimmte Pflanzen und technische Errungenschaften und Unterschieden im Vokabular für andere Vegetation und Errungenschaften läßt sich dieser Ursprung ungefähr zeitlich und geographisch eingrenzen. So sind die Bezeichnungen für verschiedene Bäume von Einzelsprache zu Einzelsprache sehr variat, was auf Steppenbewohner schließen läßt. Viele Bezeichnungen für Vieh, Saat, Ernte, Metalle, Pferd und Wagen stimmen weitgehend überein, so daß mit archäologischen Methoden ein ungefährer Zeitpunkt des Einsetzens dieser Kultur bestimmt werden konnte. Direkte Belege dieser Sprache gibt es nicht, sie kann nur durch den Vergleich der später daraus entstandenen Sprachen erschlossen werden.

Die Untersuchung der Gewässernamen im heutigen Verbreitungsgebiet führt zu einer Untergruppe, die man alteuropäisch nennt. (Die andere Gruppe nennt man Indoiranisch). Diese Sprachen haben weitgehende Gemeinsamkeiten in den Namen für Gewässer (welche sich aus frühen Sprachstufen weitgehend unverändert bis in unsere Zeit erhalten haben), diese alteuropäische Hydronymie zeigt sich an Gewässernamen mit *al- (< *ol-/*el-) oder *sal- (Elbe, Aller, Ala, Elz, Als, Allia; Saale, Sella, Salisa etc.) und einigen anderen idg. Wurzeln. Das läßt darauf schließen, daß diese Namen nicht einzelsprachlichen Ursprungs sondern aus einer voreinzelsprachlichen Periode sind. Ein anderes, früher gebräuchliches, Einteilungskriterium ist der Anlaut des Numerals 'hundert' (idg. *kmtom). Dies führt zur Aufteilung in Kentumsprachen und Satemsprachen, je nachdem, ob es sich um einen Plosiv oder um einen Frikativ handelt. (das dt. [h] ist ein Produkt der 1. Lautverschiebung).

Die Kultur der Schnurkeramiker muß sich vom Schwarzen Meer aus über weite Teile Europas ausgebreitet haben und dabei andere Völker absorbiert haben, ohne daß deren Sprache(n) so viele Reflexe im Idg. hinterließen, wie beispielsweise im Industan oder im Mitelmeerraum. Im Ostseeraum (Baltikum) entstand eine blühende Kultur der sog. Streitaxtleute, die ungefähr von 1500 bis 500 v.Chr. existierte. Sie muß großräumig homogen und mobil gewesen sein, da die sprachlichen Entwicklungen zum Germanischen hin im gesamten Gebiet nahezu uniform sind.

Das Germanische bildet einen Zweig in der Geschichte der sogenannten Indoeuropäischen Sprachfamilie.

Vom Indogermanischen zum Germanischen

Die ältesten germanischen Zeugnisse sind durch römische Autoren überliefert (Cäsar, Tacitus, Plinius). Wörter, die sie wiedergeben, zeigen einen Sprachzustand, der als Gemeingermanisch (auch: Urgermanisch) bezeichnet wird, in dem also alle Germanen eine gemeinsame Sprache hatten; eine Auseinanderentwicklung muß demnach erst später stattgefunden haben.

Originäre Zeugnisse sind Runeninschriften, u.a. der Helm von Negau (unklar, zwischen 300 v.Chr. und 0) und das goldene Horn von Gallehus (um 400 n.Chr.); oft stammen die Belege zwar aus Zeiten, als die germ. Stämme bereits unterschiedlich sprachen, jedoch ist der Sprachstand in den (meist kultischen) Inschriften archaischer und erlaubt so Rückschlüsse auf das Gemeingermanische.

Exkurs: Germanische Stämme und ihre Sprachen. Üblicherweise werden die Germanischen Stämme in drei große Gruppen unterteilt: Nord-, Ost- und Westgermanen. Die wichtigsten Völker der einzelnen Gruppen sind folgende (in Klammern: Sprachen der betr. Volksgruppen):

a) Nordgermanen: Wikinger, Normannen (altnordisch);

b) Ostgermanen (†): Goten, Vandalen, Gipiden, Rugier, Burgunden (Gotisch, etc.; Rudimente als Lehnwörter erhalten, Krimgotisch noch im 18. Jh. belegt.);

c) Westgermanen:

c 1) Nordseegermanen: Friesen (altfriesisch), Angeln (altenglisch), Sachsen (altsächsisch), Jüten; bei Plinius/Tacitus als Ingwäonen bezeichnet;

c 2) Weser-Rhein-Germanen: Franken; Istwäonen;

c 3) Elbgermanen: Langobarden (†), Sweben, Alemannen, Hermunduren (†), Baiern; Ermionen/Hermionen.

Die Stämme unter (c 2) und (c 3) lassen sich auch als Südgermanen zusammenfassen. Die Regionalbezeichnungen können teilweise verwirren, wenn beispielsweise die Baiern als Elbgermanen klassifiziert werden. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, daß es sich erstens um Großräume handelt, und zweitens das ursprüngliche Siedlungsgebiet der Stämme gemeint ist. Massenhafte Migrationsbewegungen unter den germanischen Stämmen, Stammesteilen und Stammesverbänden - die Völkerwanderung - führen einerseits zu einer Durchmischung, andererseits zu einer Aufspaltung in einzelne Stämme. So ist für die Jahrhunderte nach der Zeitenwende keine gemeinsame Germanische Sprache mehr anzusetzen, sondern bereits einzelne Stammessprachen.

Folgende Erscheinungen sind die hauptsächlichen Unterschiede zwischen Germanisch und Indogermanisch, bzw. kennzeichnen die Entwicklung zum Germanischen, die im zweiten bis ersten vorchristlichen Jahrtausend stattgefunden haben muß:

1. Lautverschiebung. Das Germanische unterscheidet sich in einigen Punkten systematisch von den anderen indoeuropäischen Sprachen. Der wichtigste Unterschied betrifft systematische Lautveränderungen, die unter dem Begriff „germanische Lautverschiebung“ zusammengefaßt werden. Diese Entwicklung zog sich über Jahrhunderte hinweg und war wahrscheinlich um das 2. Jh. vor Chr. abgeschlossen.

Im System der Verschlußlaute:

a)   [p, t, k] à [f, þ, c ] stimmloser Plosiv à stimmloser Frikativ, vgl.: aind. pitar, lat. pater, dt. Vater, eng. father, schwed. fader; idg. *peku > ahd. fisk aber lat. piscis.

b)  [b, d, g] à [p, t, k] stimmhafter Plosiv à stimmloser Plosiv, vgl. lat. genu, dt. Knie, schwed. knä.

c)   [bh, dh, gh]à [b, ð, g] (<b d,g>) stimmhafter behauchter Plosiv à stimmhafter Frikativ.

Diese Verschiebungen fanden nicht in sog. gedeckter Stellung statt, wenn entweder schon im Idg. dem zu verschiebenden Laut [s] vorausging (lat.: spuo, ahd.: spiwan) oder wenn im Idg. zwei Verschlußlaute aufeinanderfolgten (dann wurde nur der jeweils erste verschoben: lat.: noct, got.: naht).

Die stimmlosen Frikative wurden inlautend stimmhaft, wenn der Wortakzent im Idg. nicht auf dem Vokal davor lag: [s, f, Þ, c] à [b, ð, g, z] ([z] entsteht als neues Phonem). Diese Erscheinung wurde nach dem dänischen Sprachwissenschaftler Karl Verner Vernersches Gesetz genannt. Jakob Grimm, der das Phänomen noch nicht erklären konnte, nannte es grammatischen Wechsel.

Anmerkung: Zum Vergleich wird hier Latein herangezogen, das die entspr. germ. Entwicklungen nicht mitgemacht hat und das synchron mit dem germ. und später dem ahd. existierte. Zu beachten ist dabei, daß Latein einer anderen Familie angehört und nicht in direkter Linie mit dem Germ. verwandt ist.

Festlegung des freien Wortakzents. Eine wichtige Neuerung des Urgermanischen war auch der Wandel der Akzentverhältnisse. Das Indoeuropäische hatte einen freien, beweglichen Akzent. Daß auch das älteste Urgermanisch einen freien Akzent haben mußte, geht aus dem Vernerschen Gesetz hervor. Doch vermutlich noch während des Ablaufs der germanischen Lautverschiebung hat sich im Urgermanischen der Übergang zur Anfangsbetonung vollzogen, die alle altgermanischen Sprachen aufweisen. Die Festlegung des Akzents auf die erste (Wurzel-)silbe des Wortes hatte weitgehende Folgen für die weitere Entwicklung des phonologischen Systems und der morphologischen Struktur der germanischen Einzelsprachen. Die Festlegung des Akzents auf die erste Silbe führte im Deutschen:

- zu der Abschwächung der verschiedenen unbetonten Vokale;

- zu der Reduzierung der Silbenanzahl in der Wortstruktur, zu der Vereinfachung der Kasusflexionen der Substantive und der Personalendungen der Verben;

- und als Folge dessen entstand später im Deutschen die obligatorische Zweigliedrigkeit im Satz (Subjekt – Prädikat-Verhältnis).

Abschwächung der unbetonten Nebensilben. Sie vereinfachte das komplizierte idg. Flexionssystem erheblich, und förderte so den analytischeren Sprachbau. So fallen beispielsweise von den 8 idg. Kasus der Ablativ, Lokativ und Instrumental mit dem Dativ zusammen, der Vokativ fällt zusammen mit dem Nominativ, so daß vier Kasus übrigbleiben. Der Dual schwindet allmählich.

Die „Erste lateinische Welle“ (ca. 50 v. Chr. - 500 n. Chr.). Die lateinischen Einflüsse auf die germanischen Sprachen vollzogen sich in erster Linie in drei sog. „lateinischen Wellen“. Die „Erste lateinische Welle“ wird in etwa mit dem Zeitraum der Zweiten Lautverschiebung gleichgesetzt (50 v. Chr. - 500 n. Chr.); die „Zweite lateinische Welle“ kann ungefähr mit 500 - 800 n. Chr. umschrieben werden; die „Dritte lateinische Welle“ bezeichnet die spätlateinischen Einflüsse in der Zeit des Humanismus.

Der Kontakt zwischen Römern und Germanen findet hauptsächlich durch die Romanisierung Galliens am Niederrhein, an den Flüssen Mosel und Maas, statt. Kultur- und Verwaltungszentrum ist die Stadt Trier. Weitere Kontakte passieren an der Donau, am Oberrhein und im Alpengebiet. Die Verbindungen im Alpengebiet sind jedoch sehr spärlich, weil die Alpen-Barriere auch den Sprachkontakt und -austausch be- oder sogar gänzlich verhindert. Der Kontakt bewirkt einen immensen Kulturumbruch bei den germanischen Völkern. Aus dem neuen Vokabular geht hervor, daß auch vielerlei Tätigkeiten von den Römern auf die Germanen übergingen. Z.B. ausgeklügelterer Hausbau, besser strukturierte Verwaltung usw. Die Entlehnungen der ersten lateinischen Welle werden noch von der Zweiten Lautverschiebung und dem i-Umlaut verändert. Sie geschehen daher noch in gemeingermanischer Zeit. Die übernommenen Wörter lassen sich wieder bestimmten Bereichen zuordnen. Diese sind: Hausbau (mit Stein), Gemüse und Obst, Weinbau, Handel, Zeiteinteilung, Kochkunst, Küche, Tiere, Verwaltung und Recht und christlicher Glauben.

Beispiele:

Hausbau: Die Häuser der Germanen waren aus Holz und Lehm (Pflöcke in Erde geschlagen > Holzgeflecht > mit Lehm verschmiert). Sie erlernen die Kunst des Hausbaus mit Steinen von den Römern und übernehmen etliche Wörter wie Wand, Fenster, Ziegel < ahd. ziagal, lat. tegula, Kalk, Mauer, Keller < lat. cellarium, Pfeiler < lat. pillarium.

Obst und Gemüse: Kirsche, Pflaume, Pfirsich, Kohl, Rettich, Kürbis, Senf, Minze.

Weinbau: Wein, Winzer, Kelter, Trichter, Kelch, Most; besonderes Interesse verdienen folgende vier Begriffe: Kelter < lat. calcare 'mit der Ferse treten', lat. calcatura 'das Keltern', Trotte 'Kelter' - Lehnübersetzung aus lat. calcatura zu lat. calcare, Torkel < mlat. torcula zu lat. torcular, torculum 'Presse' zu torquere 'drehen', Presse < mlat. pressa zu lat. premere 'drücken, pressen'; NB: verschiedene Entlehnungsschichten bei Kelter und Trotte.

Handel: Markt, Kiste, Sach, Zins, Zoll, Münze, Pfund.

Tiere: Esel, Maultier, Saumtier.

Kochen: Küche, Koch, Kessel, Schüssel, Pfanne, Becken.

Verwaltung und Recht: Kaiser < lat. Caesar, Kerker, Kette.

christliche Mission: Schreiber < scriban < scribare, Tinte < tincta.

Zu dieser Zeit findet auch ein Sprachkontakt im süddeutschen Raum mit dem Gotischen statt (Wulfila-Bibel). Wörter sind beispielsweise Pfaffe, Pfarre, Engel, Teufel. Der Ursprung der gotischen Wörter liegt im Griechischen. Z.B.: Pfaffe < gr. páppas 'ehrwürdiger Vater, Papst'. Weitere Beispiele: bair. Ergetag 'Dienstag', Pfinstag 'Donnerstag', Kirche, Bischof. Vermutlich gelangten diese frühen christlichen Lehnwörter von den Goten (dem ersten germanischen Stamm, der zum Christentum konvertierte) über die Bayern in das Rheingebiet. Der Kontakt könnte jedoch auch durch die Römer erfolgt sein.

Das Endonym „deutsch“. Das Wort deutsch ist erstmals - allerdings in lateinischer Form - belegt in einem Bericht des Nuntius Georg von Ostia an Papst Hadrian I. über zwei Synoden, die 786 in England stattfanden: die dort gefaßten Beschlüsse sollten sowohl in Latein als auch in der Volkssprache (latine et theodisce) verlesen werden, damit jeder sie verstehen könnte. Das lat. theodiscus (als gelehrtes Wort für gentilis, 'völkisch, heidnisch') beruht auf dem germ. *Þeudô 'Volk' + Adjektivsuffix -iska (nhd. -isch) und bezeichnet zunächst nur die germanische Volkssprache im Gegensatz zum Latein. Bis weit in die ahd. Zeit hinein wird es nur selten und ausschließlich auf die Sprache angewendet. Erst um 1090 wird diutisc im Annolied auf Volk, Land und Sprache angewandt. Das vorher gebräuchliche frencisg wurde durch die romanischen Franken des Westreiches beansprucht und war somit uneindeutig, was zur vermehrten Verwendung von diutisc beitrug.

 

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