„Je mehr wir von der Zukunft der deutschen Sprache
vorherwissen wollen, umso intensiver müssen wir ihre Geschichte studieren“
Lektion 0. Grundbegriffe der
Sprachentwicklung
Andererseits
entstehen z.B. Fragen, warum in dem heutigen Sprachsystem so viele scheinbar
unlogische Formen aus dem Rahmen fallen, d.h. in der Aussprache, der
Orthographie, der Grammatik, der Wortbildung - oder wir versuchen
Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den nahe verwandten Sprachen
Deutsch und Englisch zu verstehen:
•Warum schreibt man im
Deutschen das lange i in lieb, dienen usw. mit
ie?
•Warum heißt es
Sonnenschein, wo es sich ja um eine Sonne handelt?
•Warum hat das Deutsche – u.a.
im Gegensatz zum Englischen – die Klammerstellung des Verbs?
•Warum heißt es auf
deutsch Apfel, auf Englisch aber apple?
In diesen
und anderen Fällen kann oft die diachronische Sprachbeschreibung eine
Antwort geben: lieb wurde früher
li-eb ausgesprochen (als ein
Diphtong); Sonnen ist die alte
Genitivform der schwachen Feminina; die Endstellung des Verbs verdankt das
Deutsche möglicherweise dem großen lateinischen Einfluß
während der Zeit des Humanismus; und der deutsche Apfel hat pf infolge der sog. 2. Lautverschiebung, die das
Englische nicht mitgemacht hat.
Die Sprache verändert
sich also im Laufe der Zeit. Schon wer die Sprache verschiedener Generationen
vergleicht, wird wahrscheinlich feststellen, daß Unterschiede bestehen,
nicht nur was den Wortschatz, sondern auch was das Sprachsystem betrifft. Was
gestern gegen die Norm verstieß, wird heute unter Umständen schon
akzeptiert.
Ist aber ein solcher
Sprachwandel zufällig? Wenn z.B. das Dativ-e (mit dem Kind-e spielen) und das Genitivobjekt (Er schämte sich seiner Eltern) seltener werden? Oder wenn
Konjunktivformen wie hülfe,
fröre, tränke immer mehr zu Gunsten einer Umschreibung mit würde verschwinden? Wir verstehen
diese Veränderungen leichter, wenn wir wissen, daß es sich hier um
Beispiele einer für alle germanischen Sprachen typischen
Entwicklungstendenz handelt, deren Anfänge mehr als 2000 Jahre
zurückliegen.
Sprachgeschichte ist also
für das Erlernen einer Sprache insofern von Bedeutung, als sie die Regeln
und Ausnahmen des sprachlichen Systems weniger undurchsichtig macht und uns den
Hintergrund für die Veränderungen und die Weiterentwicklung der
Sprache von heute erläutert.
Aber
Sprachgeschichte ist auch die Geschichte der Wörter und damit auch die der
kulturellen Entwicklung. Die Sprache ist ja eine soziale Erscheinung, ein
Mittel der Menschen, sich untereinander zu verständigen. Das Entstehen und
Verschwinden der Wörter spiegelt immer die Zeit, die Sitten und
Gebräuche, die geistigen Strömungen, die Veränderungen der
Lebensbedingungen und den Wandel der gesellschaftlichen Struktur wider. Obwohl
es erst seit 1200 Jahren schriftlich überlieferte deutschsprachige Quellen
gibt, kann man mit Hilfe des Wortschatzes auch gewisse Schlüsse über
die schriftlose Zeit ziehen: er enthält Erinnerungen an frühere
Epochen der Menschheit ebenso wie Widerspiegelungen der späteren.
Das
Wort Laune
(aus lat. luna 'Mond') z.B.
verrät, daß die mittelalterliche Astrologie der Ansicht war,
daß die Stimmungen der Menschen von dem wechselnden Mond abhängig
waren (vgl. eng. lunatic
'verrückt'). Das Verb fressen (ver +
essen) bedeutete bis in mhd. Zeit nur 'ganz aufessen'. Dies galt aber von
da an als unfein, als neue Tischsitten verlangten, daß man einen Rest auf
dem Teller übriglassen müsse. Deswegen wurde das Wort auf Tiere
bezogen und auch umgangssprachlich im Sinne von 'gierig essen' verwendet. Brille erzählt uns, daß die
ersten Brillen - um 1300 - aus dem geschliffenen Halbedelstein Beryll hergestellt wurden. Die
verschiedenen Bezeichnungen für Apfelsine
(älteres Niederländisch appelsina
'Apfel aus China') in Deutschland und Österreich erinnern daran, daß
Norddeutschland seine Apfelsinen über Hamburg und Amsterdam bekam. Goethe
spricht z.B. von Goldorangen, und noch
heute sagt man in Österreich Orangen.
Anhand von
diesen und ähnlichen Beispielen zeigt sich, daß die Sprache auch ein
Spiegel der Sprachträger ist, der Menschen, die sie gestern gesprochen
haben und heute sprechen. Dies bedeutet aber auch beim Studium einer Sprache
und ihrer Geschichte, daß die Umwelt nicht vergessen werden darf, in der
diese Sprache gesprochen wurde und wird.
Sprachliche Veränderungen. Wie sehr sich die deutsche Sprache seit den ersten
schriftlichen Denkmälern im 8. Jh. verändert hat, bemerkt man, wenn
man einen Text aus dieser Zeit liest.
Die folgenden Abschnitte aus dem Hildebrand(s)lied sind ohne Glossar und
althochdeutsche Grammatik kaum zu verstehen:
dat
sagetun mi usere liuti
alte anti
frote dea erhina varun,
dat hiltibrant
haetti min fater; ih heittu hadubrant.
forn her
ostar gihueit, floh her otachres nid,
hina miti
theotrihhe enti sinero degano filu.
her furlaet
in lante luttila sitten
prut in
bure bam unvahsan,
arbeo
laosa.
(...) wili
mih dinu speru werpan
Das erzählten
mir unsere Leute alte und erfahrene, die vordem waren, daß mein Vater
Hildebrand hieße; ich heiße Hadubrand. In der Vorzeit ging er nach
Osten, floh er (vor) Odoakers hin mit Dietrich und vielen seiner Degen
(Krieger). Er ließ im Lande gering (elend; oder: die Kleine) sitzen, die
junge Frau im Hause und ein unerwachsenes Kind, erblos. (...) Du willst mich
mit deinem Speer (be)werfen.
Vergleicht man nun den
althochdeutschen und den neuhochdeutschen Text, dann stellt man fest, daß
nur wenige Wörter unverändert geblieben sind (alte, in). Lautliche
(phonologische) Veränderungen haben die Wortgestalt oft bis zum
Unkenntlichen verwandelt (arbeo laosa
> erblos). Manche Wörter
haben außerdem heute eine andere Bedeutung, vgl. nid 'Haß', aber Neid
'Mißgunst'. Einige Wörter, die vielleicht von den übrigen
germanischen Sprachen her bekannt sind, existieren im Neuhochdeutschen gar
nicht mehr (luttil, forn} und
sind durch andere ersetzt worden.
Die
Orthographie hat sich auch verändert (ih
> ich; fater > Vater). Ebenso ist die Vielfalt der Flexionsendungen
mit den sogenannten vollen Vokalen (a, i, u, o) einem Leser ohne
sprachgeschichtliche Kenntnisse fremd. Schließlich fällt einem auf,
daß der Satzbau zum Teil anders ist. Man kann also feststellen, daß
die Sprache auf allen Ebenen Veränderungen durchmacht, d.h.:
Auf der phonologischen Ebene:
Ausspracheveränderungen;
Auf der morphologischen Ebene:
die Flexion ändert sich;
Auf der syntaktischen Ebene: der
Satzbau wird anders;
Auf der lexikalischen Ebene:
Veränderung im Wortbestand;
Auf der semantischen Ebene:
Bedeutungswandel.
Die
Sprachwissenschaft weiß jedoch noch verhältnismäßig
wenig über die oft recht komplizierten Hintergründe sprachlicher
Neuerungen. Eine Veränderung kann sich z.B. von einem geographischen Zentrum
aus verbreiten, von einer sozialen Gruppe ausgehen oder vielleicht zu
verschiedenen Zeiten - oder gleichzeitig - an verschiedenen Orten wirksam sein.
Die Ursachen können
innersprachlicher Art sein: sehr alte Entwicklungstendenzen wirken z.B.
über Jahrhunderte weiter; oder eine sprachliche Veränderung
zieht eine andere nach, so daß eine Kettenreaktion entsteht. Manche
phonologische, morphologische und syntaktische Veränderungen können
hierdurch erklärt werden.
Oft wirken andere Sprachen
ein. Andererseits spielen aber auch
außersprachliche Ursachen eine Rolle. Da die Sprache ja eine soziale Erscheinung ist, spiegeln sich
politische, soziale, wirtschaftliche, technische und geistesgeschichtliche
Verhältnisse und Veränderungen in ihr wider. Dies gilt vor allem
für den Wortschatz.
Jede sprachliche
Veränderung beginnt als abweichender Gebrauch einzelner Sprecher und setzt
sich erst allmählich durch, was mehrere Generationen dauern kann.
Sprachwandel. Alle in dieser
Zusammenfassung genannten Erscheinungen und Veränderungen sind Aspekte des
Sprachwandels. Die Betrachtung der Sprachgeschichte ist immer die Betrachtung
des Sprachwandels, da er die Grundbedingung für eine Sprachgeschichte ist.
Er setzt ein, sobald sich innerhalb eines Sprachsystems Variation
bildet.
Theorien des Sprachwandels. Wie
entstehen Sprachen? Stammen alle Sprachen der Welt von einer einzelnen
Ursprache ab oder sind die verschiedenen Sprachsysteme der Menschen
unabhängig voneinander an verschiedenen Orten entstanden? Auch diese Frage
muß unbeantwortet bleiben. Im Prinzip bestehen drei Möglichkeiten:
Alle Sprachen der Welt stammen von einer einzigen Ursprache ab. Die
strukturellen Unterschiede der vielen Sprachen auf der Welt erklären sich
durch die Weiterentwicklungen über einen gewaltig langen Zeitraum.
Typologisch verwandte Sprachen (z.B. die indogermanischen Sprachen) stammen von
verschiedenen Ursprachen ab, die autochthon zu verschiedenen Zeiten und an
verschiedenen Orten der Welt entstanden sind. Wenn man bedenkt, daß das
Sprachvermögen offenbar eine typisch menschliche Eigenschaft ist und
daß auch die Schrift, soweit wir heute wissen, an mehreren Orten zugleich
entstanden ist, erscheint diese Möglichkeit vielen als die
wahrscheinlichste. Eine dritte Möglichkeit ist immerhin denkbar: alle heute
existierenden Sprachen stammen von einer einzigen Ursprache ab, die aber selbst
nur eine neben anderen bestehenden Sprachen bildete. Die anderen Sprachen sind
heute verschwunden. Weiters muß berücksichtigt werden, daß wir
durch Rekonstruktion nur in der Lage sind, in der Zeit bis etwa 3.000 bis 3.500
v. Chr. zurückzugehen, und auch das ist, wie wir noch sehen werden, nicht
allgemein anerkannt. Alles, was davor liegt, ist der seriösen Wissenschaft
(zumindest nach derzeitigem Wissensstand) nicht zugänglich. Die Frage, wie
Sprachen entstehen und vergehen, hängt natürlich auch mit dem Wesen
der Sprache und der angewandten Methodik zusammen.
Sprache als
Organismus. Viele Sprachhistoriker des 19.
Jh. neigten dazu, sich an naturwissenschaftlichen Vorstellungen zu orientieren,
im Gegensatz zu der schon sozialgeschichtlichen Sprachgeschichts-Auffassung
Adelungs und zu der schon anthropologisch-pragmatischen Auffassung Humboldts.
Jacob Grimm
und seine Zeitgenossen verglichen die menschliche Sprache mit einem lebenden
Organismus. Sie kamen vor allem deswegen darauf, weil sie der Ansicht waren, daß
der einzelne Mensch Sprache nicht verändern könne, sondern daß
sich Sprache vielmehr wie nach eigenen Gesetzen verhält.: „[Die Sprache]
ist ein organisches Wesen, und man muß sie als solches behandeln“
(Wilhelm von Humboldt, zit. nach Arens 1969, S. 180).
Die
Vorstellung, daß Sprache ein selbstständiges und unabhängiges
„Eigenleben“ führt, hat zu einer Reihe von Aussagen gefürt, die
für das 19. Jh. maßgeblich geworden sind. So sprechen etwa Friedrich
Schlegel und Wilhelm von Humboldt von der „inneren Sprachform“, sie meinen
damit eine Art geistiger Kraft, die die Sprache von sich ausgestaltet und dem
Menschen aufzwingt.
Ein Beispiel für solche Anlehnung der
Geisteswissenschaften an die Naturwissenschaften am Beginn der
industriegesellschaftlichen Epoche war die Stammbaumtheorie August
Schleichers (Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft, 1863), nach der
man sich die Geschichte verwandter Sprachen vorstellte als organisches Wachstum von einer ursprünglichen Einheit zur
Vielheit durch Aufspaltung einer (nur hypothetisch rekonstruierbaren) Ursprache (z.B. Indogermanisch) in Tochtersprachen.
Verfolgt
man die Stammbaumtheorie bis zu ihrer letzten Konsequenz, ergeben sich schwer
wiegende Probleme.
Von wirklich sozialwissenschaftlicher Perspektive war
auch die damals einflußreiche Sprachwandeltheorie Hermann Pauls
(Principien der Sprachgeschichte, 1880) noch weit entfernt, trotz seines
Postulats, Sprachwissenschaft sei „Kulturwissenschaft“ und
„Gesellschaftswissenschaft“, und daß es keine andere Sprachbetrachtung
geben könne als die „geschichtliche“. Die Möglichkeiten der
„gesellschaftlichen Einwirkung für die Sprache“ waren bei ihm noch
eingeengt auf abstrakte Vorstellungen wie „proportionale Analogie“, auf
psychische und physiologische Faktoren oder die Eltern-Kind-Beziehung beim
Generationswechsel, also auf die individualistische Erklärung von
lautlichen und grammatikalischen Erscheinungen, ohne Beziehungen zum gesamtgesellschaftlichen
Umfeld. So standen Laut- und Formenlehre im Mittelpunkt der germanistischen
Sprachgeschichtsforschung des späten 19. Jh.
Auch noch teilweise in szientistischen Traditionen stand
die Wellentheorie, die Johannes Schmidt (Die Verwandtschaft der indogermanischen
Sprachen, 1872) der Stammbaumtheorie und der junggrammatischen Suche nach
Lautgesetzen entgegenstellte; jedenfalls gilt dies für ihre metaphorische
Erklärung: wellenförmige Ausbreitung von Bewegungen wie auf einer
Wasserfläche von Unruhezentren her.
Einer einseitigen Anwendung der Wellentheorie trat Otto
Höfler (1955) mit seiner Entfaltungstheorie entgegen: zeitlich-räumliche
Sprachunterschiede erklärte er aus polygenetischer Entwicklung. Auch hier
findet man noch einen biologischen Vergleich: ähnlich wie sich die
Baumblüte im Frühling in der einen Landschaft früher als in der
anderen entfaltet, so können auch in der Sprachentwicklung gemeinsame
Prädispositionen mehrerer Sprachen oder Dialekte hier früher und dort
später wirksam werden. Die Einzelerscheinungen des Sprachwandels sind oft
nur äußere Symptome, deren Ursachen tiefer liegen (z.B. Akzent,
Intonation oder die Entwicklung zum analytischen Sprachtyp) und mit sehr alten
Entwicklungstendenzen zusammenhängen.
In den 1960-er und 1970-er Jahren sind im Rahmen
strukturaler und generativer Richtungen der Linguistik systemlinguistische
Theorien des Sprachwandels entwickelt worden, mit denen man vorwiegend
sprachvergleichenden und sprachtypologischen Fragestellungen nachgeht (s.
Penzl, Lüdtke, Mayerthaler). Sie haben die Forschungen auf dem Gebiet der
Historischen Linguistik im Bereich der Phonemik, Morphemik und Syntax stark
angeregt.
Neben dem Sprachwandel von innen heraus gibt es aber auch
noch den Sprachkontakt. Kulturelle, wirtschaftliche und politische
Beziehungen zwischen Sprachgemeinschaften sind die Regel. Der Sprachkontakt
führt nahezu zwangsläufig zu Neuerungen in den betroffenen Sprachen.
So wie beispielsweise der Kontakt mit der römischen Kultur den Germanen
römische Güter und Erfindungen brachte, deren lateinische
Bezeichnungen als Lehnwörter (ziagal, fenster) auch ins
Deutsche eingingen. In jüngerer Zeit ist vor allem die Schwestersprache
Englisch Ursprung vieler Lehn- und Fremdwörter, die in den deutschen
Wortschatz gelangen. Diesen Grundgedanken verfolgt die Konvergenztheorie
(S. Trubetzkoj, 1939): Sprachen stehen im ständigen Kontakt, beeinflussen
sich gegenseitig. Durch Sprachmischung (auch genetisch nicht verwandter
Sprachen) ergibt sich allmählich eine strukturelle Angleichung.
Nach neueren soziopragmatischen Theorien des
Sprachwandels erklärt man die Veränderbarkeit von Sprache vor
allem aus folgenden Faktoren (in wissenschaftsgeschichtlicher Reihenfolge):
-
Ökonomie: Da man auch
anderes und wichtigeres zu tun hat als mit sprachlicher Genauigkeit Zeit zu
verschwenden und da man die Kommunikationspartner mit überflüssigem
Gerede und Geschreibe verschonen will, macht man sich es oft mit der Sprache
bequem und verwendet sie in reduzierter Weise.
- Innovation: Das gewohnte Inventar der Sprache ist für kulturell kreative und
nonkonformistische Tätigkeiten nicht immer hinreichend geeignet, ist
abgenutzt und entwicklungsbedürftig. So bedient man sich gelegentlich,
aber regelhaft, vieler Möglichkeiten sprachlicher Neuerung.
- Variation: Die
Sprachbenutzer sind - produktiv ebenso wie rezeptiv - sehr flexibel in Bezug
auf die Wahl sprachlicher Mittel, je nach kommunikativen Bedingungen und
Zwecken. Ein großer Teil der Sprachveränderungen resultiert aus
Verschiebungen im System der Varianten, die als stilistische Alternativen
längst in der Sprache vorhanden sind.
- Evolution: Der
Sprachgebrauch und vor allem die Beeinflussung des Sprachgebrauchs durch
gesellschaftliche Kräfte haben mitunter Wirkungen auf die Sprache zur
Folge, die von denen, die Sprache benutzen oder zu beeinflussen versuchen, gar
nicht beabsichtigt sind.
Theorie der Natürlichkeit. Die so genannte Markiertheitstheorie oder
Natürlichkeitstheorie (die auf Roman Jakobson und seine Untersuchungen zum
Russischen zurückgeht) geht davon aus, daß es in der Sprache
natürliche Einheiten gibt, die markiert sind, und solche, die nicht
markiert sind. (Daraus wird klar, daß sich diese Überlegungen aus
dem Strukturalismus herleiten: „Markiertheit“ ist dabei eine Rückübersetzung
von eng. „markedness“.) Jakobson betrachtete im Russischen bei der Dichotomie
Nominativ vs. Akkusativ den Nominativ als markiert, den Akkusativ als
unmarkiert. Die Auslautverhärtung im Deutschen kann damit so erklärt
werden, daß die markierten stimmhaften Phoneme ihr Merkmal, d.h. ihre
Stimmhaftigkeit verlieren und unmarkiert werden. Allerdings kann der
sprachliche Wandel nicht generell als ein Abbau von Markiertheiten verstanden
werden, denn ein Abbau von Markiertheiten auf der einen Ebene hat eine Zunahme
auf einer anderen Ebene zur Folge. Auch kann die Natürlichkeitstheorie
wenig über die Ursache sprachlichen Wandels aussagen, also warum es zu
einer Änderung bei den Markiertheiten kommt.
Häufigkeit
(Frequenz). Auch diese Überlegungen gehen letztlich auf
Hermann Paul zurück. Man stellte einen Zusammenhang auf zwischen:
•der
Häufigkeit von sprachlichen Elementen und ihrer Größe:
häufig gebrauchte Einheiten überschreiten selten eine gewisse
Größe;
•der
Häufigkeit von sprachlichen Elementen und dem Sprachwandel: häufiger
gebrauchte Formen zeigen eine Tendenz, verkürzt oder vereinfacht zu
werden.
Berühmt
in diesem Zusammenhang ist das von G.K. Zipf (1902-50) formulierte und nach ihm
benannte „Gesetz“. Zipf formulierte die schon vor ihm gemachte Beobachtung
folgendermaßen: sortiert man die in einem Text vorkommenden Wörter
nach ihrer Häufigkeit abnehmend in einer Liste, so zeigt sich, daß
für jede Form das arithmetische Produkt aus dem Rang in dieser Liste und
der absoluten Häufigkeit relativ konstant ist (d.h. längere Formen
sind seltener, kürzere häufiger). Dies gilt für alle Texte, alle
Sprachen und alle Zeiten, so daß es sich nach Zipf um eine sprachliche
Universalie handelt: je länger eine sprachliche Form ist, desto seltener
kommt sie vor.
Für
den Sprachwandel bedeutet dies, daß auf allen Ebenen Beispiele für
dieses Prinzip gefunden werden können:
•Kleinbuchstaben
sind häufiger als Großbuchstaben.
•Laute
mit weniger komplexer Struktur (z.B. stimmlose Konsonanten) sind häufiger
als komplexere.
•Simplizia
sind häufiger als Wortzusammensetzungen oder -ableitungen.
•Die 3. Person ist
häufiger als alle anderen Personen, der Singular häufiger als der
Plural.
•Am häufigsten sind
einsilbige Wörter.
Gezielte Eingriffe in die Sprache.
Es ist immer wieder vorgekommen, daß
Einzelpersonen oder Personengruppen bewußt oder unbewußt
regulierend in die Entwicklung der Sprache eingegriffen haben. Martin Luther
und der Einfluß, den seine Bibelübersetzung auf die deutsche Sprache
ausgewirkt haben, sind ein Beispiel für unbewußte Sprachregelung.
Auch
bestimmte kulturelle Vorstellungen oder Richtlinien können sich auf die
Sprache auswirken. z.B. durch die Tabuisierung bestimmter Sachbereiche (etwa
der Fortpflanzung), durch religiöse Vorschriften, Dikatete der
Höflichkeit u.a.m.
Ein bekannter Sprachtypologe V. Skalička hat
folgende Gesetzmäßigkeiten der sprachlichen Entwicklung
aufgestellt:
1.
Stabilität –
Voraussetzung, daß die Sprache als Kommunikationsmittel dienen kann. Zu
viele oder zu tiefgreifende Änderungen würden die Kommunikation
erschweren oder gar unmöglich machen.
2.
Gleichgewicht
der Ausdrucksmittel – Verlust bestimmter Mittel wird durch andere Mittel
aufgehoben.
3.
Systemcharakter –
Elemente, die mit einem veränderten Element in Verbindung stehen,
verändern sich auch.
4.
Sprachlicher
Fortschritt – umstritten (nur im Sinne, daß sich die Sprache
den neuen Bedürfnissen der Kommunikationsteilnehmer immer besser anpaßt).
Sprachliche Ökonomie. Sprache ist veränderbar, weil
Sprachkommunikation oft eilig, ungenau oder unvollständig ausgeübt
wird. Man kann sich sprachliche Genauigkeit und Vollständigkeit in manchen
Situationen durch sprachreduzierende Ausdrucksweisen verschiedener Art
ersparen. Sprachökonomisches Verhalten entspricht oft auch den
Erwartungsnormen der Gesprächspartner. Nach den Konversationsmaximen von
H.P. Grice gehört es zu den allgemeinen Grundsätzen kooperativer
Kommunikation, daß man „seinen Gesprächsbeitrag nicht informativer
als erforderlich machen“ und nur das sagen soll, was je nach der Situation
wesentlich oder „relevant“ ist. Verstößt man erkennbar dagegen, z.B.
langweilt man Gesprächspartner/Leser mit Unwesentlichem, mit zu viel
Redundanz (Informationsüberfluß), muß man damit rechnen,
daß sie aus solcher Prinzipienverletzung ihre stillen Folgerungen ziehen.
Die Verfügung über ökonomische Sprachmittel ist also auch
sozialpragmatisch wichtig. Andererseits ist Sprachökonomie eine sehr
relative Qualität. Was für den einen Rezipienten oder in einer
Situation ökonomisch wirkt (Zeit und Beziehungsstörungen erspart), kann
für einen anderen Rezipienten oder in einer anderen Situation das
Gegenteil davon sein. So gibt es in der Sprachkulturentwicklung gegen die
sprachökonomischen Entwicklungstendenzen entsprechende Gegentendenzen des
möglichst expliziten (genauen), redundanzreichen Ausdrucksstils.
Sprachökonomie gehört zu denjenigen Prinzipien
strukturaler Sprachwandeltheorie, die aufgrund ihres konkreten Vorkommens im
menschlichen Kommunikationsverhalten auch in soziopragmatischen
Erklärungen von Sprachwandel ihren Platz haben.
Andre Martinet (1963) sieht als wichtiges Prinzip der sprachlichen Entwicklung „die
ständige Antinomie zwischen den Kommunikationsbedürfnissen des
Menschen und seiner Tendenz, seine geistige und körperliche Tätigkeit
auf ein Minimum zu beschränken“. In jedem Stadium der Sprachentwicklung
komme es zu einem „Gleichgewicht zwischen den Mitteilungsbedürfnissen, die
zahlreichere, spezifischere, nicht so häufig auftretende Einheiten
verlangen, und der menschlichen Trägheit, die zum Gebrauch einer
beschränkten Zahl von Einheiten drängt, die allgemeineren Wert haben
und häufiger verwendet werden“. Deshalb sind die häufigsten und
semantisch allgemeinsten Wörter meist die kürzesten (der, die, das, er, sie, es, ein, und, ist,
nicht, von, zu, mit, ...) (vgl. Natürlichkeitstheorie).
Es muß dabei unterschieden werden zwischen Ökonomie der
Gedächtnisleistung (Sprachsystem, langue, Sprachkompetenz) und
Ökonomie der Artikulation und Formulierung von Sprache (Sprachgebrauch,
parole, Performanz), und Entsprechendes auf der Seite der Rezipienten.
Das Streben nach „optimaler Verteilung der Belastungen“
ist relativ zu verschiedenen Kommunikationsbedürfnissen: es gibt „kein
absolutes Optimum“, also auch keine sprachökonomisch ideale Sprache,
sondern nur eine „relative Optimierung“ in dreierlei Weise (Ronneberger-Sibold):
1. Das Bedürfnis nach „partikularer Optimierung“
(auf nur einer Ebene des Sprachgebrauchs bzw. nur für die Bedürfnisse
eines der Kommunikationspartner) ruft Reaktionen in anderer Richtung hervor,
hält also die Sprache „in ständiger Bewegung“.
2. Die optimale Realisierung ist von relativen
Häufigkeiten abhängig, die sich „durch die äußeren
historischen Verhältnisse“ ändern können; sehr häufige
Elemente werden am wahrscheinlichsten und stärksten gekürzt.
3. Sprachmischung (auch zwischen Varietäten einer
Sprache) fördert Vereinfachung des Sprachsystems, da der
Sekundärspracherwerb bei Erwachsenen weniger durch Imitation als durch das
Bedürfnis nach Analogie und Regelvereinfachung gekennzeichnet ist.
Innovation ist also grundsätzlich ein regelrechter Teil von
Sprachverwendung, nicht ein Störfaktor. Die Arten sprachlicher Innovation
sind am offensichtlichsten im Bereich des Wortschatzes: Wortbildung,
Wortentlehnung, Bedeutungswandel.